Montag, 3. Juni
Heute habe ich den Mietvertrag für meine Wohnung unterschrieben und die Schlüssel bekommen, was zunächst Bauchschmerzen zur Folge hatte. Es wird ernst. Alles, was erst nur hypothetisch und dann theoretisch war, habe ich nun schwarz auf weiß und muss es in die Praxis umsetzen. Ich komme mir vor wie ein Teenager, der flügge wird und das traute Heim verlässt - nicht ganz freiwillig, aber es wird Zeit. Mir fällt die Decke auf den Kopf, ich muss hier raus, gehe spazieren.
Halt Stop! Es sollte doch einiges anders werden, oder nicht? Also versuche ich umzudenken, anzunehmen, was ich eh nicht ändern kann. Ich reiße mich zusammen und beschließe, in meine Wohnung zu gehen. Der Weg dorthin führt über die Einkaufsstraße hier im Viertel. Ich kaufe Putzkram, einen Besen und blaues Klopapier.
In meiner Wohnung mache ich erst einmal einen Inspektionsgang. Ich habe drei Zimmer für mich ganz alleine. Der Gasherd ist noch nicht angeschlossen. Aber da lasse ich trotz allem handwerklichen Geschicks dann doch lieber die Finger von, ich will ja nicht das Haus in die Luft sprengen. Außerdem lässt sich das Wohnzimmerfenster nicht öffnen, weil die Malerdeppen über die Scharniere wild drüber gepinselt und dann auch noch die die Fenster geschlossen haben, bevor der Lack trocken war. Dafür sind Toilette, Waschbecken, Spüle und Herd neu. Mit den Kohleöfen muss ich mich noch anfreunden. Ich habe keine Ahnung, wie die Dinger funktionieren, weiß im Moment nicht einmal, wo ich Brennmaterial herbekomme. Aber angesichts schwülwarmer knapp 30 Grad Außentemperatur interessiert mich Heizen im Moment auch nicht wirklich. Ich mache mich lieber an die Putzarbeit.
Nach zwei Stunden nutze ich den (un?)günstigsten Teil der Infrastruktur und hole mir etwas zu Essen. Meine erste Mahlzeit in meiner neuen Wohnung. Kein Gala-Dinner, kein kaltes Buffet, stattdessen mutterseelenallein und fast kalt, dafür aber symbolträchtig: Big-Mäc-Menü mit Mayo und Schoko-Shake, dazu noch ein Cheesburger extra. Putzen macht hungrig. Gespeist wird auf dem Wohnzimmerboden. Ich komme mir etwas verloren vor, bin aber dennoch der Meinung, dass dieser denkwürdige Moment der Nachwelt erhalten bleiben muss und mache ein Photo.
Anschließend putze ich noch ein wenig weiter, aber nicht wirklich viel. Ich habe keine Lust mehr und gehe nach Hause.
Dienstag, 4. Juni
Ich muss mal gucken, wo mein Keller ist. Ich brauche ja irgendwann Kohlen zum Heizen. Meine Betreuerin ist auch dabei und ist in Bezug auf Keller genauso heldenhaft wie ich. So tapsen zwei schaudernde Gestalten im Halbdunkel des nur 1,80 Meter hohen Kellers gebückt herum und suchen die Nummer 11 - leider vergebens. Wir gehen lieber wieder nach oben, hier unten sind zu viele Spinnen.
Alleine in der Wohnung halte ich es nicht lange aus, habe mit Chaos im Kopf zu kämpfen. Ich will nach Hause.
Mittwoch, 5. Juni
Ich kann nicht schlafen. Mein Kopf dröhnt, die Füße und Hände fühlen sich an, als würden sie in siedendem Wasser liegen. Die Muskeln der Arme und Beine drohen bei jeder Bewegung zu reißen. Alles tut weh.
Etwas macht mir Sorgen: Funktionsausfälle in meiner Phantasie. Gewöhnlich betrete ich eine Wohnung und sehe sofort vor meinem geistigen Auge, wie sie mit meinen Möbeln und meinen Ideen aussehen würde, wenn es meine Wohnung wäre. Ich besitze die Vorstellungskraft, andere Farben an den Wänden, neue Teppiche, nötigenfalls sogar eingezogene oder herausgerisse Wände zu sehen. Dutzende von Wohnungen und Häusern habe ich bereits im Geiste renoviert und umdekoriert und nach meinem Geschmack gestaltet, bis hin zu Details wie Bilder an den Wänden, Pflanzen, Kernzen, Vorhängen und Sofakissen, unabhängig davon, ob ich dort jemals einzuziehen gedachte oder nicht. Diese Fähigkeit scheint mir abhanden gekommen zu sein.
Donnerstag, 6. Juni
Offensichtlich renovieren in dieser Stadt nur Menschen, die ein Auto besitzen. Keiner der örtlichen Baumärkte ist mit der S-Bahn ohne Gewaltmarsch erreichbar. Im strömenden Regen verlaufe ich mich auch noch, weil ich natürlich wieder in die falsche Richtung gegangen bin. Aber ich schaffe es trotzdem noch, wenigstens schon für ein Zimmer Tapeten zu kaufen.
Ich möchte mich fallen lassen, mich meinem Leid hingeben. Oh nein, nicht weil ich es schön finde zu leiden, sondern weil das Positive daran der Punkt ist, an dem man merkt, dass man tiefer nicht fallen kann und dass es endlich wieder aufwärts geht. Ich sehne mich danach, die Tür hinter mir zu schließen und das Handy auszuschalten, auf dem Bett zu liegen und die Decke anzustarren. Ich sehne mich nach Ruhe.
Aber das geht noch nicht. Vorher muss ich mich so lustigen Dingen wie der Steuererklärung widmen, die ich auch in diesem Jahr der alten Regelmäßigkeit folgend zu spät abgebe.
Sonntag, 9. Juni
Gemeinsam mit Soul und smu schleppe ich den wenigen Krempel, den ich hier in Berlin habe, von smus Wohnung in meine. Anschließend trinken wir eine Flasche Sekt und singen ziemlich schräg die Ode an die Freude.
Montag, 10. Juni
Die erste Nacht im eigenen Heim ist überstanden!
Die übliche Frage, wie man denn die erste Nacht geschlafen habe, werde ich mit dem für mich ebenso üblichen “gar nicht” beantworten müssen. Vollgepumpt mit Amphetaminen, um die Schmerzen in den Knien nicht spüren zu müssen, habe ich die ganze Nacht mein Arbeitszimmer tapeziert. Ich bin kaputt aber keineswegs müde und nun auf dem Weg zu einem Termin.
Ausnahmsweise mal pünktlich losgegangen, schaffe ich es trotzdem nicht, rechtzeitig dort zu sein, da die Bahnen wegen irgendeinem Wasserschaden nicht fahrplanmäßig fahren. Es ist egal, wie früh ich losgehe. Ich bin nie pünktlich. Es ist wie ein Fluch.
Heute konnte ich beim Hausmeister der Wohnanlage gegeüber meinen Briefkastenschlüssel abholen. Bei der Schlüsselübergabe zur Wohnung war nämlich keiner vorhanden. Der Hausmeister war auch so freundlich, mir den Gasherd anzuschließen. Den Durchlauferhitzer brachte er auch nicht in Gang, dafür rief er einen Gas-Fachmann, der mit zwei Handgriffen für warmes Wasser sorgte. Im Keller stellten der Hausmeister und ich fest, dass es gar keinen Abstellraum zu meiner Wohnung gibt. Ein Schreiner muss erst kommen und eine Trennwand zwischen dem Raum mit der Wasseruhr und meinem Keller einziehen.
Dienstag, 11. Juni
Ein kleiner Lichtblick: Die erste Post im neuen Heim, eine Ansichtskarte vom Meer. Danke!
Mittwoch, 12. Juni
Das postalische Licht von gestern wurde heute von einer dunklen Wolke überschattet.
Ich hasse Firmen, bei denen die rechte Hand nicht weiß, was die linke gerade macht. In meiner Leckt-mich-alle-am-Arsch-Phase des letzten Jahres - genaugenommen dauerte sie das gesamte letzte Jahr und dauert immer noch an - betraf dies auch Rechnungen, weswegen ich nun einen Haufen Schulden am Hals habe und auch noch bei mehreren Providern gesperrt bin. Mit einem dieser Provider habe ich zwischenzeitlich eine Ratenzahlungsvereinbarung un nun schreibt mir das Inkassobüro von denen, ich solle die Forderung doch bitte schön bis zum 28.06.2002 ausgleichen. Und damit nicht genug, schicken sie mir auch noch einen zweiten Brief mit einer weiteren Forderung, die mir allerdings völlig unbekannt ist. Das muss wohl ein Versehen sein. Es nervt mich ungemein, deswegen jetzt schon wieder einen Brief schreiben zu müssen. Ich schmeiße die Blätter zu den anderen Sachen, die seit Tagen, manche seit Wochen dringend erledigt werden müssen.
Mein Arbeitszimmer ist übrigens fertig.
Donnerstag, 13. Juni
Ich rufe meine Tochter mal wieder an und sage ihr, dass ich jetzt in meiner Wohnung wohne. Bei der Gelegenheit erfahre ich von C., dass die beiden vorerst doch nicht hierher ziehen. Ich hasse es, in solchen Dingen immer wieder Recht zu haben. Sie kommen mich nächsten Monat besuchen und gucken sich das ganze erstmal an.
Samstag, 15. Juni
Mein Krempel steht jetzt übersichtlich verteilt in meinem Arbeitszimmer. Mein Leben findet aktuell noch unterhalb der Metermarke statt.
Allerdings ist mein Aquarium dabei kaputt gegangen. Es knackte plötzlich ganz laut und die Bodenplatte hat nun einen Riss einmal quer durch. Ich evakuiere meine Fische in eine rote Plastikkiste und stelle diese dorthin, wo ursprünglich das Aquarium stehen sollte. Eine halbe Stunde später ist schon wieder der Boden nass. Ich stelle das Plastikkisten-Aquarium in die Dusche und kuriere auf der Luftmatratze bei einem Kaffee und einer Zigarette meinen Nervenzusammenbruch. Dabei starren meine Augen auf den Fleck, wo eigentlich meine Fische hinter Glas schwimmen sollten und ich entdecke einen Nagel im Boden, der für die Überschwemmungen ursächlich verantwortlich ist. Da meine Fische irgendwo wohnen müssen, verpasse ich dem Aquarium eine Innenverkleidung aus Malerfolie und quartiere sie wieder dort ein. Dann platziere ich das Becken so, dass der Nagel ihm nichts anhaben kann. Bis nächsten Monat muss das so gehen.
Sonntag, 16. Juni
Die BfA will schon wieder Unterlagen von mir. Aktuell wird der Versorgungsausgleich für meine Scheidung dort geklärt. Und eine ehemalige Vermieterin, mit der C. und ich seit 1993 im Streit sind, hat auch schon wieder irgendetwas Unsinniges zu melden. Ich muss also noch mehr verhasste Briefe schreiben.
Montag, 17. Juni
Ich muss Tapeten kaufen, weswegen es sich nicht vermeiden lässt, bei den mörderischen Temperaturen raus zu gehen. Im Briefkasten ist eine gelbe Karte, auf der in großen Lettern Bockmist steht. Wie passend, denke ich mir, als ich diese Karte noch für Werbung halte. Aber dann sehe ich, dass sie von Älis und somit erneut ein Lichtblick ist.
Ich gehe bei smu Wäsche waschen und muss dort außerdem noch ein Paket beim Nachbarn abholen. Dieser zwingt mir eine Gespräch und eine Wohnungsbesichtigung auf. Das Paket ist eine Art kombiniertes Willkommens- und Survival-Paket. Allerdings frage ich mich beim Auspacken. ob der Inhalt bewusst zynisch ausgewählt ist:
- 1 Rolle Klopapier, bei dem auf jedem Blatt “Happy End” steht,
- 1 Tüte Gummibärchen, “Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso”,
- 1 Modell-Truck von Coca-Cola, auf dessen Packung “Life tastes good” steht,
- 1 Pfund Onko-Kaffee, bei dessen Anblick mir unweigerlich das Lied aus der Werbung durch den Kopf geht: “Always look on the bright side of life”,
- 1 Dose Gemüsemais, zart und jung - im Gegensatz zu mir?,
- Bratkartoffeln, Käsenudeln, Nutella, Teelichter, Tempotaschentücher und ein Labello sowie ein Feuerzeug mit der Aufschrift “Zwiebelschneidflenner”
Der Inhalt war, wie sich anlässlich eines Telephonats mit sense, der Absenderin des Packets, klärt - unbewusst bezüglich der Marken und Werbe-Slogans gewählt, sondern nur nach dem ausgesucht, was mir gefällt, ich mag bzw. benötige. Über die Doppeldeutigkeit haben wir herzlich gelacht.
Mein Schlafzimmer ist übrigens fertig.
Dienstag, 18. Juni
Endlich bekomme ich mein Bett und muss nicht mehr auf der Luftmatratze mit den Maßen 1,60 x 0,50 Metern schlafen. Seit dem 6. August 2000 habe ich genau sechsmal in einem richtigen Bett geschlafen: eine Nacht im Bett meiner Tochter, zwei Nächte bei bei Franz in Graz, eine Nacht in Franken und zwei Nächte bei Sophie während der 3. Deutschlandreise. Die übrige Zeit habe ich auf Luftmatratzen, zusammenklappbaren Gästebetten, Sofas oder Matratzen, die auf dem Boden liegen, genächtigt.
Ich sollte nicht mehr in den Briefkasten schauen. Das Finanzamt will 350 Euro von mir für das Jahr 2000, welches ich eigentlich bereits steuerlich abgeschlossen glaubte. Ich muss also noch einen Brief schreiben.
In meiner Küche riecht es seit Stunden trotz geöffneter Fenster im Bereich des Durchlauferhitzers nach Gas. Also schalte ich ihn sicherheitshalber ab, bevor ich ins Bett gehe.
Mittwoch, 19. Juni
Das hätte ich besser nicht getan, der Durchlauferhitzer lässt sich nicht wieder einschalten. Auch der Hausmeister schafft es nicht und holt wieder den Gas-Mann. Offensichtlich lässt sich dieses Gerät, das noch aus irgendeinem VEB stammt, nur von qualifiziertem Fachpersonal bedienen. Der herbeigerufene Profi baut das Teil auseinander, reinigt es mit einem meiner Pinsel, bemängelt die völlig falsche Einstellung von dem Gerät, baut es wieder zusammen und klaut meinen Pinsel, den er gewohnheitsmäßig in einer Tasche seines Blaumanns verschwinden lässt. Ich fordere das 39-Cent-Werkzeug zurück.
Ich habe schon immer sehr auf meine Sachen geachtet und bin seit dem 6. August 2000 extrem empfindlich, wenn es darum geht, meine Habseligkeiten zusammenzuhalten. Dafür würde ich nötigenfalls sogar ein Gesuch ans Nato-Hauptquartier richten, ob man trotz der Bin-Laden-Jagd noch irgendwo zwei bis drei Krieger frei hätte, die mich bei der Verteidigung meines Eigentums unterstützen könnten.
Das Jugendamt hat mir einen Brief geschrieben, dass man meine Tochter aufgrund meines Umzugs in eine andere Stadt von Amts wegen polizeilich abgemeldet habe ich und ich bitte mitteilen solle, wo sich das Kind nun aufhält. Sind denn jetzt alle verrückt geworden?! Noch ein Brief zu schreiben, die Unerledigt-Kiste füllt sich.
Ich habe Rückenschmerzen.
Donnerstag, 20. Juni
Die Fische haben die unfachmännische Innenverkleidung des Aquariums sabotiert. Bei smu steht eine Kiste wie meine rote in beige, die ich mir ausleihe, um die schuppigen Kameraden erneut umzuquartieren.
Älis möchte mit mir telephonieren. Wir haben noch nie telephoniert. Sie möchte die kontakt- weil internetlose Zeit unterbrechen. Ich bin nervös, sage aber zu, koche mir schnell noch einen Kaffee und setze mich mit diesem und Zigaretten in die Mitte meines untapzierten Wohnzimmers ins Dunkle, halte das Handy zitternd in der linken Hand und warte darauf, dass es klingelt. Wenige Minuten später tut es das auch. Trotz der Erwartung zucke ich dermaßen zusammen, dass ich das Telephon fallen lasse. Anfangs ungewohnt ist das Telephonat aber schnell angenehm, vertraut und tut gut.
Freitag, 21. Juni
Aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir:
“Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen.”
Ich lächelte und war froh und es kam schlimmer.
Der Abfluss der Dusche ist verstopft, das Wasser braucht ewig, bis es abläuft. Meine Laune ist dafür umso besser abgelaufen, also widme ich mich den verhassten Briefen.
Samstag, 22. Juni
Ich versuche die Verstopfung mit Rohrfrei zu bekämpfen, schütte erst vorsichtig ein bisschen gemäß Packungsaufschrift hinein und spüle nach einer Weile nach. Der erhoffte Erfolg bleibt aus. Fast den ganzen Tag beschäftige ich mich mit dem scheiß Ding. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren, hocke dauerhaft vor der Dusche auf dem Boden, fixiere den Abfluss mit den Augen. Aber trotz durchdringendem Blick wird er nicht frei. Also kippe ich immer wieder Rohrfrei nach, es blubbert, zwischen, brodelt und schäumt, sonst tut sich nichts. Nach der halben Flaschen fängt das Wasser aus dem Rohr auch noch an zu stinken. Abwechseln schütte ich Rohrfrei nach, warte ab und halte dann den Duschschlauch rein, um vielleicht mit dem Druck das Rohr frei zu spülen. Gegen 19 Uhr ist das Rohrfrei leer, dafür aber der Abfluss so dicht, dass das Wasser nun gar nicht mehr abläuft. Frustriert und genervt gebe ich meinen Wachposten auf.
Ich fange an, diese Wohnung zu hassen. Ich will doch nichts weiter, als nur ein bisschen Ruhe, mich aufs Bett legen und die Zeit verstreichen lassen können, ohne irgendetwas tun zu müssen, ohne mich um irgendetwas kümmern zu müssen. Nur Ruhe suchen, eine Art innere Harmonie wiederherstellen, nicht ständig diesem Druck ausgesetzt sein. Das ist es, wonach ich mich sehne, was mir im Leben aber nicht möglich scheint. Das finde ich wohl nur im Tod.
Das Wohnzimmer ist übrigens fertig und damit die Aktion “Gerade Tapeten auf schiefe Wände pappen” abgeschlossen. Endlich!
Manchmal ist es, als würde ich neben mir stehen und mich selbst beobachten, so auch heute während des Tapezierens. Ich fragte mich, woher die Frau, die da auf dem Wohnzimmerboden im Schneidersitz sitzt und die Tapete einkleistert, die Kraft nimmt, immer wieder mit dem Ich-kann-nicht-mehr-Gedanken im Kopf auf die Leiter zu steigen und ihre Arbeit zu machen, die Schmerzen in den Knien missachtend. Als sie endlich fertig ist und damit beginnt, die Arbeitsgeräte zu reinigen, wirkt sie furchbart alt, wie sie durch die Wohnung humpelt, sich mühsam bückt, die Sachen aufhebt, sauber macht und anschließend wegräumt.
Ich wende mich ab, mag das Elend nicht sehen, will aber auch nicht auf die beschissen tapezierten Wände gucken, also lege ich mich auf das Bett, schließe die Augen und lasse mich von Lethargie gefangen nehmen.
Sonntag, 23. Juni
Der Abfluss ist - wie nicht anders zu erwarten war - immer noch verstopft. Duschen fällt also trotz Hitze aus.
Montag, 24. Juni
Der Hausmeister hat so ein Draht-Ding, das man Spirale nennt. Den Abfluss bekommt er damit jedoch auch nicht frei. Wenigstens erledigt er für mich das unangenehme Telephonat mit der Wohnungsgesellschaft. Anschließend vereinbart er noch einen Termin mit dem Fachmann für verstopfte Abflüsse.
Dienstag, 25. Juni
Um 7 Uhr kommt der Tischler, baut meinen Keller und verdreckt meine ganze Wohnung mit dem Geschleife und Gehoble am Wohnzimmerfenster. Um 9 Uhr ist er wieder verschwunden und ich putze hinter ihm her. Um 11 Uhr kommt der Rohr-Profi und verdreckt meine Küche und die Dusche mit seinen Schuhen und der Höllenmaschine, die den Abfluss von seiner Verstopfung kuriert. Um 11:30 Uhr ist er wieder verschwunden und ich putze hinter ihm her.
Eine Stunde später muss ich zu einem Termin. Bei der Gelegenheit rufe ich beim Ordnungsamt an, um in Erfahrung zu bringen, wie lange sich meine seit über zwei Monaten laufende Gewerbeabmeldung noch hinziehen wird. Statt dem üblichen Behörden-Gemuffel und Verbindungs-Genuschel (ist ja nie einer zuständig), schmetter die Frau nach Nennung meines Namens euphorisch: “Das ist ja wunderbar, dass sie Anrufen!”, ins Telephon. Hä? Ich lasse mich aufklären, dass sie bereits mehrfach bei smu angerufen hat. Woher hat die die Nummer? Einmal hatte sie smu am Apparat, der ihr auch erklärte, dass ich nun nicht mehr bei ihm wohnen würde. Bei weiteren Versuchen ging keiner ans Telephon. Warum ruft die da nochmal an, wenn sie doch weiß, dass ich da nicht mehr wohne?
Wie auch immer, es ist mittlerweile kurz nach 15 Uhr, ich liege seit etwa 20 Minuten auf meinem Bett, als die Erde mit lautem Getöse und Krachen explodiert. Ich springe auf. Wozu eigentlich? Noch bevor ich die Gedanken über die Sinnlosigkeit dieser Aktion angesichts des nahen Endes vertiefen kann, bringe ich das Krachen der Silvester-Knaller mit dem kolletiven “TOOOR!!"-Gebrüll meiner Nachbarschaft von vorhin in Verbindung: Fußball-Deutschland hat das WM-Finale erreicht.
Mitgerissen von der Stimmung aus den übrigens Wohnungen im Block beschließe ich während eines patriotischen Anfalls, mir das Endspiel am Sonntag anzusehen. Schließlich darf man globale Ereignisse unter deutscher Beteiligung nicht verpassen, selbst Fußball nicht. Außerdem hatte ich Sonntag eh noch nichts vor.
Donnerstag, 27. Juni
Als ich neulich einkaufen ging, kam ich an einem Haus vorbei, bei dem gerade an den Gasleitungen davor gearbeitet wurde. An der Haustür pappte ein ziemlich großer Aufkleber, auf dem stand, dass Gasleitungen im Haus undicht sind und man deswegen die Gasversorgung abgestellt hatte. Undichte Gasleitungen … Jedes einzelne Haar auf meinem Körper stellte sich auf. Das fehlte mir noch! Für mein Unterbewusstsein jedenfalls Stoff genug für einen neuen Alptraum. Ich sehne mich nach meinen traumlosen Nächten zurück, meinetwegen auch den schlaflosen, denn selbst die waren angenehmer als das. Dabei kommt es mir fast wie eine Erlösung vor, dass ich jeden Morgen gegen 7 Uhr aufwache, wenig erholt zwar, aber immerhin Herr meiner Sinne.
Sonntag, 30 Juni
Deutschland ist nicht Fußball-Weltmeister 2002. dark* ist müde.
Am 3. Juni stand ich als rechtmäßiger Mieter meiner neuen Wohnung in eben derselben, knapp vier Wochen Wohne ich jetzt hier, behaftet mit dem Gefühl der Ablehnung und den Widerwillen bekämpfend. Heute stehe ich fast jede Nacht im leeren Wohnzimmer, starre durch das Fenster ins Nichts. In mir hat sich der Wunsch, nie wieder zu sprechen, ausgebreitet. Die nächste Stufe der Isolation, Rückzug, stückchenweise Sterben, der Ruhe entgegen, jeden Tag ein bisschen mehr.
Die äußere Ruhe dürfte nun auch Vergangenheit sein. Bisher wurde sie lediglich durch die aus Kinder-Technoclubs bekannte Mainstream-Scheiße der Nachbarin schräng unter mir gestört. Aber am Freitag hat eine Firma diverse Warn- und Halteverbotsschilder, Baken mit gelben Blinklichtern, einen Bagger und eine rosa Blech-Toilette sowie sonstiges Equipment, was nötig ist, um eine ruhige Seitenstraße in eine lärmende Großbaustelle zu verwandeln, rangekarrt. Würde ich an den Südpol ziehen, dauerte es vermutlich keine vier Wochen, bis man Mittel und Wege gefunden hat, selbigen mit schwerem Gerät und unerträglichem Lärm zu urbanisieren.
dark* ist müde vom Durchhalten trotz Kraftlosigkeit und Leben müssen im Sterben wollen.
nicht heute, heute nicht, und morgen?
Die Sehnsucht nach innerer Ruhe immer noch ungestillt, bleibt mir nichts anderes als abzuwarten. Ein neuer Tag, eine neue Woche, eines neuen Monats, die zweite Jahreshälfte bricht in wenigen Stunden an. Mal sehen, was sie bringt. Früher habe ich die Jahre abgearbeitet, nun bin ich auf Halbjahre umgestiegen, die Zeitspanne verkürzt, um Erträglichkeit zu bewahren. Wo wäre ich ohne Selbstbetrug.
morgen sage ich vermutlich wieder: nicht heute.