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Chemotherapie Part One

 ·  ☕ 7 Minuten zum Lesen  ·  ✍️ dark*

Um 05:12 Uhr wurde ich wach, um 06:23 Uhr torkelte ich schlaftrunken zur Toilette, um 06:35 positionierte sich der Kater vor der Badezimmertüre, zunächst beobachtend, wenige Minuten später sein morgendliches Kampfgebrüll anstimmend. Ich torkelte in die Küche, versuchte erfolglos das ekelerregend riechende Katzenfutter aus der Verpackung zu bekommen. Heute war das Zeug besonders widerspenstig und es war Werkzeug von Nöten. Gleichzeitig lief der Kaffee durch die Tassimo. Als ich mit dem Hände Waschen fertig war, sah ich erst, dass sie die ganze Brühe über die Küchenarbeitsplatte verteilt hatte, meine bereitstehende Kaffeetasse aus irgendeinem Grund ignorierend. Meine Fresse, fängt dieser Tag beschissen an!

Ich fluchte und heulte, während ich die Küche putzte, mit Müdig- und Übelkeit kämpfend, über das ständig unter Panikattacken leidende Katervieh stolpernd und um meinen hilflos im Weg stehenden Lebensabschnittsgefährten herumlaufend. Alles war voller Kaffee und Kaffeesatz. So eine Tassimo ist ziemlich bescheiden zu reinigen, verfluchtes Scheißding! Und ich war mir noch nicht einmal sicher, ob mein Magen mit dem Kaffee überhaupt einverstanden sein würde. Schließlich ist meine Magenschleimhaut seit gestern ein wenig in Aufruhr.

Der gestrige Morgen fing nicht ganz so beschissen an, entfaltete aber in den ersten zwei Stunden ein enormes Steigerungspotential. Zunächst blieb ich im Bett liegen, stellte mich tot, spielte ein wenig auf dem Smartphone herum. Die Heulkrämpfe stellten sich erst beim Frühstück ein, als ich schockiert feststellte, dass nur noch eine Stunde Zeit war bis zum Termin für die erste Chemo-Einheit. Und ich hatte noch so viel zu erledigen! Ich musste noch den vierseitigen Einwilligungsbogen durchlesen und unterschreiben. Ich musste noch einpacken, was ich zum Zeitvertreib mitnehmen wollte. Ich musste mir etwas zu Trinken vorbereiten, eine Flasche Wasser und einen Tee im Warmhaltebecher wollte ich mitnehmen. Außerdem Ersatzstrom in ausreichender Menge für mein Smartphone, Schreibzeug, Kopfhörer und natürlich den Lebensabschnittsgefährten, der ebenso wie ich selbst erst noch geduscht werden musste. Ich hasse Zeitdruck!

Außerdem musste ich zum Frühstück auch noch diese Scheußlichkeit runterwürgen:

selenase

Damit soll man die Chemotherapie insgesamt besser vertragen. Allerdings wird das Zeug nicht von der Krankenkasse bezahlt, die übernimmt die Kosten nur bei nachgewiesenem Selenmangel, man muss selbst ein wenig tief in die Tasche greifen. Aber wenn’s hilft, soll’s mir Recht sein. Und wenn es nur hilft, die Angst zu dämpfen.

Und ich hatte eine Scheißangst vor dem, was mich erwarten würde. Ich erstickte fast an meinem Brötchen, ich konnte nichts mehr essen, nur noch hysterisch rumheulen. Ich erstickte fast an meiner Angst. Und ich hasste es, in das hilflose Gesicht meines Lebensabschnittsgefährten blicken zu müssen. Überhaupt ertrage ich diese hilflosen Gesichter, die Sprachlosigkeit, diese ständige Betroffenheit um mich herum, wenn ich erzähle, dass ich Krebs habe, nicht mehr. Aber was soll man auch sagen? Und wie soll man nach so einer Schilderung zu irgendeinem anderen verdammten Scheißthema wechseln? Ich weiß nicht, wie oft ich jetzt am Telephon oder auch persönlich, in E-Mails und Chats erzählt habe, was los ist und wie mein Leben in den nächsten 12 Monaten grob umrissen aussehen wird. Und jedes Mal fange ich wieder an zu heulen und hasse es so sehr. Ich habe keinen Bock und verabscheue es, ständig anderen etwas vorheulen zu müssen.

Noch schlimmer als die üblichen Betroffenheit und Sprachlosigkeit ist die Reaktion, die vor allem bei Außenstehenden: “Sie sind doch noch so jung!” Auf die Frage, wann man denn alt genug für Brustkrebs sei, kann mir allerdings auch keiner antworten.

Der Weg zur Arztpraxis - wir hatten nur fünf Minuten Verspätung - war unmöglich ohne Sonnenbrille zu bewältigen, ich sah zum Kotzen aus. Und ich war noch nicht fertig mit der Heulerei, ich legte lediglich eine Pause ein. Im eigens für Chemotherapien eingerichteten Raum in der Praxis meines Arztes setzte ich meine Dehydrierungsbemühungen fort. Glücklicherweise sind die Mitarbeiter dort so etwas gewohnt, so dass niemand fragt.

chemo-raum

Zunächst bekam ich eine Tablette gegen die zu erwartende Übelkeit, dann durfte ich warten und mich noch ein wenig in mein Selbstmitleid reinsteigern. Der Doc kam, besah sich meinen Port und die Naht, beschloss das die Fäden noch drin bleiben und stach mit der Nadel in meinen Zugang.

port

Als erstes bekam ich so harmlose Leckerlis wie Kochsalzlösung und Kortison. So ein Ding (aka Port) ist echt viel angenehmer als eine gewöhnliche Braunüle, man merkt praktisch nichts und der kleine Pieks am Anfang ist weniger unangenehm als der berühmte Fingerpieks beim Arzt. Im dritten Schritt folgte dann das erste Gift, passenderweise in teuflisch-rot:

Rotes Gift

Läuft!

Nachdem der Campari durch war, gab es eine zweite Portion Zytostatika (welches weiß ich nicht), diesmal in unscheinbarem Durchsichtig. Zuvor musste ich zur Toilette, schließlich hatte man schon einiges an Flüssigkeit hin mich hinein gepumpt. Und trotz dehydrierendem Geheule wollte das wieder raus. Epirubicin kommt übrigens in derselben Farbe wieder raus, wie es reinläuft. Aber an farbigen Osterurin bin ich mittlerweile gewohnt: Als meine Wächterlymphknoten blau markiert wurden, pinkelte ich blau. “Schlumpfpipi” nannte es eine gute Bekannte.

Abschließend lief noch ein Blasenschutz in mich hinein, dann war ich fertig - in jeder Hinsicht. Vier Stunden dauerte die gesamte Prozedur. In der Praxis, die den ganzen Vormittag brechend voll war, war mittlerweile außer den Angestellten und uns niemand mehr. Zumindest dachte ich das, bis es an der Tür zum nebenangelegenen Untersuchungszimmer klopfte und eine blonde Frau den Kopf zu uns herein streckte: “Kommt noch jemand oder bin ich vergessen worden?” In dem Taubenschlag-Chaos hier ist doch glatt der Herr Doktor in die Mittagspause gegangen, als noch eine Patientin auf dem Untersuchungsstuhl saß.

Den Nachmittag verbrachte ich auf der Couch und im Bett. Ich fühlte mich elend. Das lag nur zum Teil am Stress und der Heulerei. Irgendwie hatte ich das Gefühl, verloren zu haben. Ich kann es nicht näher erklären, aber wie man sich halt fühlt, wenn man etwas gegen den eigenen Willen mit sich geschehen lässt. Und eigentlich habe ich mir schon vor Jahren - ach was, Jahrzehnten! - geschworen, dass dies nie wieder geschehen wird. Es war wie aufgeben, sei die Sache selbst auch noch so gut. (Wobei sich ja erst noch herausstellen muss, ob sie das wirklich ist.) So war ich morgens auch kurz davor, das alles abzublasen, es einfach sein zu lassen oder mir vielleicht sogar die Brust abnehmen zu lassen, nur damit ich kein Gift in mich laufen lassen muss. Ich weiß nicht, was mich da so sträuben lässt, vielleicht die Aversion gegen Medikamente, die ich habe, seit ich wegen der Allergie in der Dermatologie war.

medikamente

Ich bekam noch ein paar Leckerlis für Zuhause mit: Tabletten gegen Übelkeit als Bedarfsmedikation (oben links), Kortison für die Tage 2 - 4 nach der Chemo (unten links), einen Hammer gegen Übelkeit fürs Frühstück am Tag der Chemo (oben rechts) und ein Blasenschutz für die Stunden 2 und 6 nach der Chemo (unten rechts). Außerdem sollte ich um 22 Uhr meinen Arzt auf dem Handy anrufen, um mitzuteilen, ob alles in Ordnung ist. Darüber hinaus kann ich ihn jederzeit auf dem Handy anrufen, wenn es irgendein Problem gibt. Und in der Praxis kann ich auch jederzeit anrufen oder vorbei kommen, wenn ich Fragen habe.

Den Weg nach Hause legte ich wie in Trance zurück, als hätte ich Drogen genommen oder sowas. Dann gab es Mittagessen auf der Couch, ich hatte Hunger, allerdings schmeckten die Nudeln und die Soße nach nichts. Später gab es eine Tafel Nussschokolade, also eine halbe für mich die andere Hälfte für den Lebensabschnittsgefährten, wir teilen ja fast alles. Die Schokolade war da schon etwas geschmacksintensiver, dafür verursachte sie Übelkeit. Ich legte mich ins Bett.

Mir war kotzschlecht, außerdem hatte ich Kopfschmerzen und einen brutalen Druck auf den Augen. Ich nahm eine MCP und versuchte zu schlafen. Mein Lebensabschnittsgefährte ist zwar ein miserabler Hausmann, versuchte aber trotzdem nach bestem Wissen und Gewissen unser Heim wieder in dark*gerechte Ordnung zu bringen, während ich vor mich hin litt. Zum Abendessen gab es zwei Scheiben gerösteten Toast ohne Belag. Mehr wollte ich meinem Magen nicht zumuten. Nach dem 22-Uhr-Telephonat schlief ich erschöpft ein.

Heute ist mein Wohlbefinden - von der mittleren Küchenkatastrophe heute Morgen mal abgesehen - besser. Die Lippen und der Mund sind extrem trocken. Mein Labello, ich bin seit Jahrzehnten bekennender Labello-Junkie, schmeckt scheußlich. Das Zeug wird sofort wieder abgewischt, von hier ist also keine Abhilfe zu erwarten. Zum Früstück gibt es Toast. Geröstet ohne Belag. Später einen zweiten, ungeröstet mit ein wenig Erdbeermarmelade, um meinen Magen auf das Kortison vorzubereiten. Mittags gibt es ein paar Kartoffelkroketten (für den Lebensabschnittsgefährten mit Schnitzel und Champignon-Rahm-Soße, selbstgemacht, jawoll!), für mich nur mit ein wenig Soße für den Geschmack.

Und nachmittags war die Coffifee da! :-)

coffifee

Allerdings wurde mir auch davon übel, vielleicht sollte ich nicht jedesmal eine halbe Packung fressen. Aber nach einer weiteren MCP und zwei gerösteten Toasts mit Schmelzkäse zum Abendbrot geht es wieder. Wenn das so bleibt mit den Nebenwirkungen, kann ich damit leben. Na gut, die Haarnummer, da muss ich wohl noch durch. Ich habe ja sonst nichts zu verlieren …

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