Sonntagabend die ersten juckenden Beulen im Nacken und am Kinn: Mückenstiche? So ähnlich sehen sie aus und jucken auch - nur schlimmer. Ich schwanke zwischen Verharmlosung (Mückenstiche eben) und Ahnung (Ibuprofen vielleicht?), weigere mich jedoch, mich näher damit zu befassen, nehme mein Tetrazepam und falle in komaähnlichen Schlaf. Chemisch merkbefreit dauert dieser bis etwa 02:30 Uhr an.
Extremes, nicht enden wollendes Jucken! Hölle! Nach etwa einstündiger Kratzorgie, die daran auch nichts änderte, quäle ich mich aus dem Bett ins Bad und wage einen Blick in den Spiegel. “Uaahhh! Wer bist denn du?” Eine aufgequollene Beulenfratze mit knallrotem Hals starrt mich entgeistert an. Ach du Scheiße!
Das ist kein Mückenstich, soviel kann ich gerade noch selbst diagnostizieren. Der Verdacht auf eine allergische Reaktion wächst. Der Juckreiz auch. Den spontanen Reflex, meine Tochter aus dem Schlaf zu reißen, unterdrücke ich. Was sollte die schon ändern? Sie könnte mich bestenfalls beim Kratzen unterstützen. Das Jucken und die exzessiven Kratzorgien drohen mich in den Wahn zu treiben, tief durchatmen!
Ich schalte den Rechner ein und suche Ablenkung. Aber ich brauche keine Ablenkung, ich benötige eine ausgebildete Fachkraft. Etwa 50 % meiner Körperoberfläche sehen mittlerweile aus wie das Marsupilami mit Sonnenbrand und Windpocken gleichzeitig nachdem es in einen Brennnesselbusch gefallen ist. Ich brauche einen Arzt! Blöderweise schlafen die noch alle, für einen Besuch im Klinikum ist mein Zustand allerdings meiner Meinung nach nicht lebensbedrohlich genug. Vor allem habe ich keine Lust auf einen stationären Aufenthalt.
Um kurz nach Sechs taucht der Kater aus dem Wasserbett auf, um nachzusehen, ob es eventuell schon Frühstück gibt. Der herzlose Arsch! Dass sein Dosenöffner sich gerade dem Tode mal wieder näher fühlt als dem Leben, interessiert ihn nicht die Bohne. Und schon gar nicht vor dem Frühstück. Von dieser Seite ist weder Mitleid noch Unterstützung zu erwarten. Das Kind schläft immer noch tief und fest. Ich halte tapfer kratzend und kühlend bis 08:00 Uhr durch. Um 08:00 Uhr öffnet die Arztpraxis.
Vor der Türe der Praxis wartet bereits ein weiterer Patient auf Einlass, der mich leicht entsetzt anstarrt. “Allergische Reaktion vermutlich”, murmele ich verlegen mein Aussehen entschuldigend. Er nickt wissend und bedauernd und meint, er hätte ebenfalls Erfahrung mit sowas. Der Arme.
Aber viel bedauernswerter bin ich in diesem Moment. Das stellt auch die Sprechstundenhilfe fest, die uns die Türe öffnete, nachdem ich ihr in einem Satz mein Märtyrium der letzten fünf Stunden zusammengefasst hatte. Ich muss noch im Wartezimmer warten, der Arzt ist noch nicht im Haus. Hier ist es mollig warm im Gegensatz zum heimischen Habitat. Wärme ist nicht gut, die Schwellungen und der Juckreiz nehmen zu. Bloß nicht die Nerven verlieren! Und vor allem ignorieren, dass man komisch angesehen wird von den Mitwartenden, die sich zwischenzeitlich eingefunden haben.
Der Arzt, eine Vertretung meines in Urlaub befindlichen Hausarztes, betrachtet mich von oben bis unten, gibt mir ein Mittel, das den Juckreiz ein wenig lindern soll, murmelt unverständliches Zeug und schickt mich zum Dermatologen, damit dieser der Ursache auf den Grund geht und adäquate Mittel gegen meinen Zustand einsetzt.
Wieder warten, wieder warm. Langsam macht sich Schmerz in Nacken und Rücken bemerkbar, bisher hatte ich dies wohl verdrängt. Eine Stunde rumsitzen und nichts tun sind eine prima Gelegenheit, sich in sämtliche Widrigkeiten des Lebens reinzusteigern. Da, endlich kommt die Ärztin.
Nesselfieber!
Sie ist besorgt. Sie überlegt, ob sie mir direkt in der Praxis eine Infusion geben soll, entscheidet sich nach einigem hin und her aber dagegen und verschreibt mir stattdessen Kortison: Prednisolon (am ersten Tag 100 mg, danach täglich 50 mg) sowie TriamGalen Lotion zum Auftragen. Wenn es schlimmer wird, insbesondere wenn die Zunge anschwillt, soll ich sofort ins Krankenhaus fahren. Das sind ja rosige Aussichten.
Ich entscheide mich gegen die Apotheke, die unten im Ärztehaus ist, und suche stattdessen meine Lieblingsapotheke auf. Meine dort arbeitende Bekannte trifft fast der Schlag, als sie mich sieht. Die von mir begehrten Medikamente hat man bedauerlicherweise nicht vorrätig, da sie in dieser Dosierung nur sehr selten gebraucht werden. Der Apotheker ruft in der von mir verschmähten Apotheke im Ärztehaus an, dort sind natürlich beide Medikamente vorrätig. Also laufe ich noch einmal zurück.
Die Blicke der Passanten werden langsam unerträglich, ich bevorzuge entgegen sonstiger Gewohnheiten die Nebenstraßen und bin heilfroh und vollkommen erschöpft, als ich nach dem Zwischenstop in der Apotheke endlich zuhause ankomme. Meine Tochter findet, ich würde seltsam sprechen. Meine Zunge ist leicht geschwollen. Mittlerweile kann ich den Kopf kaum noch drehen, weil die Haut am Hals so geschwollen ist und spannt. Der ganze Körper tut weh und ist hoch empfindlich. Ich nehme die erste Prednisol, schmiere mich mit der Lotion von oben bis unten ein und lege mich reichlich müde ins Bett.
Nach etwa zwei Stunden des dringend benötigten Schlafes wache ich völlig matschig im Kopf wieder auf. Das Jucken und Brennen ist erträglich geworden. Das Fortschreiten ist gestoppt. Ich bilde mir ein, dass meine Zunge wieder halbwegs normale Ausmaße angenommen hat. Trotzdem fühle ich mich elend, richtig krank. Ich verbringe fast den kompletten Rest des Tages im Bett. Allerdings kann ich nur und ausschließlich auf der linken Seite liegen, sonst schläft der Arm ein und erinnert mich daran, dass ich ja immer noch einen aktuen Bandscheibenvorfall habe. Aber was soll’s …
Heute sieht die Welt wieder etwas angenehmer aus. Die Schwellungen sind fast alle zurück gegangen und zweidimensional sehen die Quaddeln wesentlich besser aus als gestern. Es juckt fast gar nicht mehr. Ich fühle mich zwar immer noch schlapp und krank, sehe scheiße aus mit geschwollenem, gerötetem Gesicht, aber das ist wohl eher auf das Kortison zurück zu führen. Hoffe ich.