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Totensonntag

 ·  ☕ 7 Minuten zum Lesen  ·  ✍️ dark*

Gestern saß ich - nach unendlich vielen Jahren - zum ersten Mal wieder auf einem Pferd. Ich wusste gar nicht mehr, wie gut sich das anfühlt. Das heißt, gewusst habe ich es vielleicht schon, aber verdrängt. Heute will ich erzählen warum das so ist und nehme den Leser mit in eine Zeit, die weit zurückliegt, die ich jedoch noch nicht hinter mir gelassen habe.

Krisenstimmung zuhause, zum zweiten Male habe ich die siebte Klasse nicht bestanden. Was meine Mutter jedoch nicht weiß: diesmal mit voller Absicht. Bereits zu Beginn des Schuljahres verkündete ich meinem Klassenlehrer, dass er weder Cooperationsbereitschaft noch Lerneifer von mir erwarten dürfe, da ich eigentlich vom Gymnasium abgehen will, meine Mutter jedoch dagegen ist. Der einzige Weg, sie dazu zu zwingen, meine Wünsche zu aktzeptieren, ist daher der Verlust der Eignung für diesen Schulzweig. In dieser Disziplin habe ich mich als erfolgreich erwiesen. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war der krankhafte Ehrgeiz dieser Frau. Statt ein wenig Fatalismus an den Tag zu legen und mich endlich auf einer Realschule anzumelden, was ich schließlich schon seit vier Jahren fordere, macht sie ein Privatgymnasium ausfindig, auf dem man nicht durchfallen kann und meldet mich hinter meinem Rücken dort, ungeachtet der Tatsache, dass wir uns die 800 DM Schulgebühr jeden Monat gar nicht leisten können, an. Die Frau hat schon lange nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Während der nun folgenden Sommerferien verbrachte ich die meiste Zeit mit E. und A., die sich ein Haus auf dem niederbayrischen Land gemietet hatten. Meine Mutter ließ sich dort nur selten blicken, höchstens an den Wochenenden, wenn sie nicht arbeiten musste und ausnahmsweise mal nicht durch die Gegend hurte. An einem dieser Wochenenden kam es zu einem Eklat, der nicht nur das gestörte Verhältnis zwischen uns in aller Deutlichkeit für andere sichtbar machte, sondern auch noch über mein zukünftiges Leben entschied.

A. hatte mich nach erfolgreichen Renovierungsarbeiten am Haus in die Dorfkneipe eingeladen, während die beiden Frauen noch putzten. Dort spendierte er mir eine Cola, in die er ein paar Tropfen von seinem Whiskey tat, weil ich das probieren wollte. Das war Anlass genug für meine Mutter, eine peinliche Szene aufzuführen und die Dorfgemeinschaft wissen zu lassen, was für ein unmögliches Kind ich doch bin, unmöglich, unerträglich, unerziehbar, unbelehrbar usw. Quintessenz ihres Vortrags war, wie bereits bei anderen vergleichbaren Auseinandersetzungen auch, dass sie sich rechtzufertigen hätte, wenn dies jemand bei der Polizei anzeigen würde. Wie immer ging es ihr nicht um mein Wohl oder meine Erziehung, sondern nur um sie. Sie hatte damit sich zum Gespött der Leute und mich zu einem bedauernswerten Geschöpf gemacht, das primär mit Fremdschämen beschäftigt war. Allerdings war auch die Ablehnung deutlich zu spüren. Diese Provinzler wollten mit solchen Städtern nichts zu tun haben.

Irgendjemand muss E. von diesem Auftritt erzählt haben, denn am nächsten Abend kam sie zu mir und unterbreitete mir einen Vorschlag. Ich könnte bei ihnen auf dem Land wohnen und in Straubing zur Schule gehen. Mit meiner Mutter hatte sie dies bereits besprochen und diese erklärte sich einverstanden. Letzteres wunderte mich nicht allzu sehr, da meine Mutter alles daran setzte, ihre Kinder und die damit verbundene Verantwortung elegant loszuwerden und ihren Egoismus frei ausleben zu können. Was den Vorschlag selbst betraf, war ich sprachlos. Ein Leben tat sich plötzlich vor mir auf, welches mir durchaus lebenswert erschien. Ich sagte daher sofort zu und am darauffolgenden Tag wurden meine Sachen aus München geholt und meine Mutter fuhr mit mir nach Straubing, um mich in der dortigen Wirtschaftsschule anzumelden. Ich war 14 Jahre alt, als ich zum ersten Mal von zuhause auszog.

Doch damit war mein Glück noch nicht perfekt, wenige Tage später kam der Schafhirt der Gegend auf den Hof gefahren und brachte mir das großartigste Geschenk, das ich mir überhaupt vorstellen konnte: A. und E. hatten sein Pferd gekauft! Sie hatten beide überhaupt keine Ahnung von Pferden und keinerlei Reiterfahrung; dieses Tier war nur für mich, hatte ich doch während meiner Grundschulzeit Reitunterricht genossen. Der alte Haflinger hatte dem Schafhirten lange Jahre treue Dienste geleistet und sollte nun bei uns in Rente gehen. Er war noch fit genug um gelegentlich ausgeritten zu werden, nur die täglichen Arbeitsanforderungen wären langsam zuviel für ihn geworden. Da bei dem angemieteten Haus ein Stall mit fünf Boxen, außerdem genug Land für eine Koppel vorhanden war, stellte die Unterbringung überhaupt kein Problem dar. Der Schafhirt und ich räumten den Stall auf und machten dort sauber. Er zeigte und erklärte mir geduldig alles, was ich wissen musste, von den Bedingungen in der Box über die Fütterung, wie man sattelt und trenst, die richtige Pflege des Pferdes und worauf ich zu achten hatte.

Ich genoss das Zusammensein mit dem Pferd, unsere ruhigen Ausritte durch Wälder und über Wiesen. Stundenlang konnte ich mich bei ihm im Stall aufhalten und mich mit ihm beschäftigen. Tagsüber war ich in der Schule, vormittags Unterricht, dann Mittagessen und nachmittags Hausaufgaben machen. Wenn ich abends heim kam, führte mein erster Weg in den Stall, wo ich oft erst wieder rauskam, wenn ich zu Bett ging. An den Wochenenden waren wir oft Stunden unterwegs. Natürlich sind wir nicht die ganze Zeit geritten, meistens suchten wir uns ein gemütliches, ruhiges Plätzchen, wo ich mich ins Gras legte und er die Halme um mich herum genüsslichen abknabberte. Ich hatte das Gefühl, mir wurde endlich ein Leben geschenkt mit einem großartigen, vierbeinigen Sinn, der auf den Namen Wiggerl hörte.

Doch dann wurde Herbst, nicht nur im Jahresverlauf. A. und E. hatten sich verändert, ihre Freundlichkeit wurde ebenso eisig, wie der Wind, der nachts um das Haus pfiff. Es gab keine Limo und keinen Saft mehr zu trinken, nur noch billigen Tee und Leitungswasser. Das Essen, welches mir aufgetischt wurde, war längst nicht mehr so üppig und reichhaltig, warmes Essen bestand aus Tütensuppen oder Nudeln mit Ketchup. Freudliche Gespräche fanden nicht mehr statt, Lachen gab es nicht mehr, ich wurde gemieden oder ignoriert. Kurz vor meinem Geburtstag im Oktober wurde mir eröffnet, dass meine Mutter das Kostgeld für mich nicht bezahlt hätte. Ich sollte doch bitte sparsamer mit dem Strom sein und abends kein Licht mehr in meinem Zimmer machen. Auch wurde ich nicht mehr zur wenige (ich weiß nicht mehr genau, vielleicht drei) Kilometer entfernten Bushaltestelle gefahren, da angeblich das Auto kaputt war - wenn auch seltsamerweise nur morgens und abends, mittags lief es tadellos. Immerhin stellte man mir ein Fahrrad zur Verfügung, bis Anfang November.

Als auch für diesen Monat von meiner Mutter wieder kein Kostgeld bezahlt wurde, hat man mir den Strom in meinem Zimmer ganz abgestellt. Dadurch funktionierte mein kleiner Ofen auch nicht mehr. Es war bitterkalt. Morgens auf dem Weg zur Schule hatte ich meistens Glück und konnte mit irgendwelchen Pendlern per Anhalter bis zum Bus mitfahren. Abends war dem in der Regel nicht so. Ich weiß nicht, wie oft ich die Strecke mutterseelenallein zu Fuß gegangen bin, stockdunkel war es und saukalt. Manchmal war es schrecklich neblig, dass man die Hand vor Augen nicht gesehen hat. Der Nebel war unheimlich, die Geräusche um mich herum klangen alle seltsam und fremd. Oft rannte ich in Panik nach Hause, das schon lange kein Zuhause mehr war. Dort hatte ich die Wahl, entweder im Stall oder in meinem Zimmer weiter zu frieren, was ich meist bevorzugte, oder - wenn ich die Kälte gar nicht aushielt - in der Wohnküche die Gemeinheiten und Grausamkeiten über mich ergehen zu lassen.

Diese konnten verbaler Natur sein, dergestalt, dass man mir vorwarf, wie unzuverlässig meine Mutter doch sei und was für ein Hurenleben sie führte. Zwar wusste ich das alles längst selbst - schließlich bin ich nicht aus Liebe zu dieser Frau bei ihr ausgezogen -, dennoch war es höchst unangenehm, dies alles hören zu müssen, schlimmer noch: es vorgewofen zu bekommen. Die Worte erzeugten ebenso Hass in mir wie die Taten. So kam ich einen Abend aus der Schule und musste mir ansehen, wie mein Lieblingspullover zum Hundespielzeug degradiert wurde. Der Blick, den A. mir beim Abschneiden der Ärmel zuwarf, ließ deutlich werden, dass dies einzig und allein geschah, um mir eins auszuwischen, um mir weh zu tun. Der Hass, den er auf meine Mutter hatte und aus einem für mich bis heute unerklärlichen Grund auf mich projezierte, gipfelte darin, mir eines Abends auf meine Frage hin breitgrinsend zu erklären, dass er mein Pferd zum Abdecker gebracht hatte und ich bis zum Wochenende Zeit hätte, aus seinem Haus zu verschwinden.

Wiggerl gab es nicht mehr. Mein Leben gab es nicht mehr.

Am Sonntag kam meine Mutter und holte mich ab. Auf meinen Wunsch hin nahm sie mich nicht mit nach München, sondern brachte mich in das Internat, das der Schule, auf die ich ging, angeschlossen war. Es war der 14. November 1982, Totensonntag.

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