Am nÀchsten Morgen klingelte um kurz nach Acht in der Wohnung meines Bruders das Telephon.
“Hallo”
“Frau S.?”
“Ja. Also nein. Ich mein, ich bin Frau S., aber nicht die Frau S., die Sie vermutlich erwartet haben.”, stammelte ich in den Hörer.
“Bitte?”
“Ich bin die Schwester von Herrn S.” Ich hatte mich etwas gesammelt.
“Ach so. Können Sie mir sagen, wo Ihr Bruder ist?”
“Arbeiten”
“Nein, hier ist sein Vorgesetzter.”
Ups … “Moment, ich sehe mal nach, ob er noch hier ist.”
Ich wollte gerade nach oben ins Schlafzimmer gehen, als mein Bruder mir entgegen kam. Es war wohl fĂŒr alle eine lange Nacht.
Eine Stunde spÀter, meine SchwÀgerin und mein Mann waren zwischenzeitlich auch aufgestanden, klingelte das Telephon erneut: Die Spurensicherung wollte einen von uns am Brandort haben, sie hÀtten noch Fragen. Mein Mann fuhr hin und ich war froh, dass er weg war.
Der Nachmittag dieses Montags war Stress pur: Wir mussten in die Stadt, Klamotten kaufen. Wir hatten nichts auĂer den Sachen, die wir am Vortrag trugen. Ich schlenderte lustlos durch die GeschĂ€fte, hatte keinen Bock, mir irgendwas zu kaufen. Ich fĂŒhlte mich eher nach Sterben als nach Einkaufsbummel, denn genau dies war es, was in der Nacht in meinem Gehirn wieder freigegeben wurde und sich eingebrannt (Haha!) hatte: Sterben. Warum warst du nicht daheim, warum? Meine Luftschlösser, die KartenhĂ€user, die ich um mich herum aufgebaut hatte, waren in Flammen aufgegangen, all das, was nach auĂen wie ein Leben aussah, war Schutt und Asche, gab es nicht mehr, es gab nur noch mich. Es blieb das ĂŒbrig, was eigentlich hĂ€tte verbrennen sollen.
Ein Lied von der BloodHoundGang geht mir nicht mehr aus dem Kopf: “The roof is on fire. We don’t need no water, let the motherfucker burn. Burn, motherfucker, burn!”
FĂŒr die Negierung meiner selbst war jedoch nicht viel Zeit, fĂŒr Selbstmitleid schon gar nicht, zu viel musste erledigt werden. In den Folgetagen wurde unsere Wohnung ĂŒberrannt von Kripo-Beamten, Spurensicherung, Gutachtern, Architekten und Handwerkern sowie diversen Neugierigen, gefĂŒhrt von Vermietern und Nachbarn. Ich empfand es als groben Eingriff in meine PrivatsphĂ€re, dass Hinz und Kunz durch meine Wohnung, sogar mein Schlafzimmer spazierten. Besonders abartig fand ich die privaten FĂŒhrungen, die meine Vermieter veranstalteten.
Am Dienstag kam mein Versicherungsmakler, um mit mir eine Liste der GegenstĂ€nde meiner Wohnung zu machen, jeweils mit Angabe von Kaufdatum und Preis. Vier Stunden lang bin ich in Gedanken die ganze Wohnung durchgegangen, habe alles aufgelistet, etliche DIN-A4-Seiten vollgeschrieben mit Hausrat, Anschaffungsdatum und Kaufpreis. Meine oft belĂ€chelte Pedanterie, mit der ich meine Sachen aufrĂ€umte, war mir dabei eine groĂe Hilfe. Auch die Tatsache, dass sich mein sonst eher beschissenes GedĂ€chtnis sich sehr gut merken kann, wann ich was zu welchem Preis gekauft habe. Als wir fertig waren, meinte er: “Das hĂ€tten wir uns sparen können, wenn du in deinem Vertrag die Klausel fĂŒr den Unterversicherungsverzicht hĂ€ttest.” Ich musste lachen: “Die hab ich drin.” Nun ja. Immerhin hatte ich nun eine Inventur von dem, was ich mal hatte.
Am Mittwoch kam der SachverstÀndige von der Versicherung und wollte die ganze Liste noch einmal durchgehen, begutachtete das, was man in der Wohnung noch erkennen konnte.
Donnerstags zogen wir bei meinem Bruder wieder aus und in das feuchte Zimmer meiner Tochter. Ich wollte in ihrer NĂ€he sein, klammerte mich emotional an das Haus, den Garten, das letzte bisschen Leben, das ĂŒbrig geblieben war. Aus dem Aquarium in der ausgebrannten Wohnung rettete ich die Fische und stopfte sie in das 60-Liter-Becken, das noch im Keller stand.
Am Freitag kam der GerÀte-SachverstÀndige, der die genaue Brandursache klÀren musste, da man die Herstellerfirma des betreffenden GerÀtes in die Produkthaftung nehmen wollte.
Am Wochenende erzĂ€hlte mein Nachbar, dass er die halbe Nacht nach dem Brand in seinem Wohnzimmer gesessen hĂ€tte und die Decke beobachtete, ob das Löschwasser auch zu ihm durchkĂ€me. Nach zwei oder drei Stunden durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke: “Denen ist die ganze Wohnung abgebrannt und du sitzt hier und machst dir Gedanken um einen lĂ€cherlichen Wasserfleck.” Er kam sich plötzlich ziemlich albern vor und ging ins Bett.
Am Montag wurde der Container fĂŒr unseren Kram aufgestellt. Ich bestand darauf, die Wohnung selbst auszurĂ€umen um zu sehen, was von dem ganzen Zeug evtl. doch noch brauchbar war (fast nichts), bzw. von mir aus SentimentalitĂ€t zum Artefakt mit Erinnerungswert erklĂ€rt und im Keller deponiert wurde. Als alles auf dem Container und die Wohnung leer war, standen wir (mein Mann, Schatzis Vater und ich) vor dem Container und ich murmelte: “Da liegt mehr, als nur mein Hausrat.”
Life goes on.
Ich musste den Geburtstag meiner Tochter vorbereiten. Ich musste die Lehrerin von ihr anrufen und informieren, was passiert ist, bevor die Sommerferien vorbei sind. Ich halte es fĂŒr besser, dass sie unterrichtet ist und nicht geschockt vor der Klasse steht, wenn sie von Schatzi hört, was geschehen war. Schatzi hat ein sehr gutes VerhĂ€ltnis zu ihrer Lehrerin, erzĂ€hlt ihr fast alles. Die Wohnung durfte sie sehen, nachdem wir das tote Kaninchen aus dem KĂ€fig entfernt hatten, das sollte sie nicht sehen. Ihr Papi hat im Garten ein Loch gegraben, in dem Blumenbeet, das Schatzi gehört. Ich trug den leblosen kleinen Körper die Treppe runter, streichelte ihn immer wieder, musste die ganze Zeit daran denken, wie er immer einem kleinen Hund gleich hinter mir her lief in der Wohnung, wie er abends zu mir kam und darauf wartete, dass ich meine Beine ausstreckte, damit er auf meinen SchoĂ klettern konnte. Viele NĂ€chte hat er dort geschlafen, wĂ€hrend ich Nintendo oder PlayStation spielte. Er tat mir so unendlich leid, hatte es nicht verdient, im Rauch zu ersticken, qualvoll zu verrecken. Ich kĂ€mpfte die ganze Zeit mit den TrĂ€nen, konnte sie aber nicht mehr zurĂŒckhalten, als Yoshi in dem Erdloch lag und von der Erde zugedeckt wurde. Mein Mann bastelte ein Kreuz fĂŒr ihn, der Name und das Todesdatum hat er mit einem Lötkolben “eingraviert” und ich klebte ein Foto von ihm darauf.
Sowohl die Feuerwehr, als auch die Kripo, ebenso der GerĂ€te-SachverstĂ€ndige der Versicherung sagte immer wieder zu mir: “Seien Sie froh, dass Sie nicht zuhause waren, kein Mensch wĂ€re lebend aus der Wohnung rausgekommen.”
Dieser Frohsinn will bis heute nicht aufkommen.