Im professionellen Psychogedöns wird der Begriff Neurose mittlerweile vermieden. Im Zusammenleben mit einer Katze beschreibt er genau das, was das Zusammenleben mit einer Katze ausmacht: den schmalen Grat zwischen putzigem Spleen und psychotischem Verhalten, das den Dosenöffner in den Wahnsinn treibt. Meine Katze, die strenggenommen ja gar nicht meine ist, hegt und pflegt ihre Neurosen.
Seit ungefähr 1,5 Jahren bereitet das Katertier die Aktion “Frau Dosenöffner in den Wahn treiben” akribisch vor. Zuvor tat er das nur sporadisch, indem er darauf bestand, bei mir wohnen zu wollen, indem er sich hartnäckig weigerte, irgendwelche Transportbehältnisse zu akzeptieren, indem er Besucher rundweg ablehnte usw. Vor 1,5 Jahren begann er, eine Fertigkeit, die er bis dato nur sporadisch einsetzte, zu perfektionieren: Protestscheißen. Im Pflichtprogramm eher trocken und leicht zu entfernen, die Kür dann in breiiger und flüssiger Form. Vorzugsweise nachts. Äußerst lecker und ein echter Belastungstest für mein Nervenkostüm.
Seit 1,5 Jahren leben wir hier mit einer Katze zusammen, die sich - im wahrsten Sinne des Wortes - für jeden Mist in die nicht vorhandenen Hosen und damit auf den Teppich scheißt, die teilweise jede minimale Abweichung vom Tagesablauf mit Durchfall quittiert und die dazu noch gelegentlich ihr unverdautes Frühstück wieder von sich gibt.
Seit ziemlich genau einem Monat ist das Tier auch noch dazu übergegangen, das nicht nur auf dem Teppich, sondern mit schöner Regelmäßigkeit im Bett zu tun. Und weil er genau weiß, dass er damit keine Sympathiepunkte bei den Zweibeiner sammeln kann, pieselt er vor lauter Angst vor den möglichen Konsequenzen (Die er gar nicht kennt, denn diesem Tier wurde noch nie Gewalt angetan!) wahlweise auf den Teppich oder ins Bett. Auslöser ist ein Aufenthalt in einer Tierpension, den er augenscheinlich nicht verkraftet. Seitdem sind wir übrigens Stammkunden im Waschsalon, da wir mangels eigenem Trockner dort die schwere Winterbettwäsche und Decken trocknen, damit wir nicht frieren müssen.
Gestern trieb das Mistvieh das alles auf die Spitze.
Um kurz nach Sechs Uhr wurde ich nach viel zu kurzer Nacht wach und musste zur Toilette. Irgendetwas an meinem morgendlichen Verhalten erschreckte den Kater zu Tode und ließ ihn Fürchterliches erahnen. Was genau das ist, habe ich allerdings nicht ergründen können. Sein Hauptproblem war vermutlich, dass ich zuerst aufgestanden bin und nicht der Herr Dosenöffner. In den letzten Tagen hat ihn das öfter dazu provoziert, ein deutliches Dislike! auf den Teppich zu setzen. Gestern jedenfalls war der so geschockt, dass ich zuerst aufstehe, dass er mich nur mit schreckgeweiteten Pupillen angestarrt hat, auf keinen Fall nach Frühstück fragen wollte und sich stattdessen lieber unter der Bettdecke versteckte. “Krank”, dachte ich nur, machte mir Kaffee, stellte ihm Frühstück hin und ging wieder ins Bett. Der Herr Lebensabschnittsgefährte ging dann wie gewohnt unter die Dusche und deckte anschließend den Frühstückstisch.
Als ich dazu kam, mich setzte und gerade anfangen wollte zu frühstücken, kam mir das Verhalten des Katers gleich merkwürdig vor. Mittlerweile habe ich ja einen Riecher für seine Aktionen entwickelt. Nicht, dass man ein sonderlich sensibles Riechorgan bräuchte, um das Fehlverhalten im Nachhinein zu erkennen … Ich merke ihm aber an, wenn er Synapsenfasching hat. Und dann treffen hier zwei Paranoide ersten Grades aufeinander: Eine Katze, die sich natürlich völlig zu Unrecht beobachtet fühlt, und ein Zweibeiner, der dem Vieh nicht weiter traut, als er gucken kann - Was bei -3 Dioptrien nicht sonderlich weit ist. Lange Rede, kurzer Sinn: Er setzte einen Haufen ins Esszimmer. Mahlzeit!
Malheur beseitigt, der Lebensabschnittsgefährte geht arbeiten, ich gehe duschen und anschließend eine Runde Fahrrad fahren. Ich brauchte frische Luft. Als ich nach Hause kam, roch es in der Wohnung seltsam und der Kater war nirgendwo zu sehen. Meine Nase lotste mich ins Schlafzimmer, das Bett sah zerwühlt aus. Er hatte sein Frühstück ins Bett gekotzt. Und auf dem Weg vom Bett unter die Couch eine Spur von Urin-Tropfen hinterlassen. Eigentlich brauchte ich die Frische Luft jetzt noch viel dringender als vorher! Aber ich ergab mich meinem Schicksal, machte die Bescherung im Bett weg, zog die Bettwäsche ab und startete die Waschmaschine. Dann nahm ich mir Putzeimer, heißes Wasser mit Waschmittel drin und machte mich an die Arbeit. Erst wusch ich den Fleck aus der Matratze aus, dann die Spur aus dem Teppich. Anschließend setzte ich mich an den Schreibtisch und begann mit meiner Arbeit.
Zur Mittagszeit machte ich Essen für den Herrn Lebensabschnittsgefährten, der in der Pause nach Hause kam. Wir hatten dann zwar schon den Eindruck, dass die Wohnung seltsam riecht, schoben dies aber auf die Mischung von Urin, Erbrochenem, Waschmittel und die Tatsache, dass ich seit Monaten sowieso schon ständig den Eindruck habe, die ganze Wohnung stinkt nach Katzenscheiße. Wir aßen zu Mittag, als der Kater ins Zimmer kam und ankündigte, dass er kotzen müsse. Mittlerweile sind wir so abgestumpft, dass es uns kaum noch etwas ausmacht, unser Essen unterbrechen zu müssen, um das zu entfernen, und anschließend die Mahlzeit fortzusetzen. Nach dem Essen fuhr der Lebensabschnittsgefährte ins Büro zurück und ich musste noch etwas am Schreibtisch erledigen. Die Stimmung war eher mau angesichts der Ereignisse des Tages. Für den Nachmittag beschlossen wir, wieder einmal in den Waschsalon zu fahren, um die Bettwäsche zu trocknen.
Nach der Arbeit befand ich, dass der eigenartige Geruch in der Wohnung kein bisschen nachließ und beschloss, die Couch von der Wand wegzurücken, um nachzusehen, ob der Kater auch darunter gepieselt hätte. Und nicht nur das, unter der Couch fand ich Durchfall, der da am Morgen definitiv noch nicht gelegen hat. Na gut, ich machte auch das noch weg und reinigte den Teppich.
Als der Lebensabschnittsgefährte von der Arbeit kam, rückten wir die Wohnzimmermöbel wieder an ihre Plätze zurück und fuhren zum Waschsalon. Der Kater war indisponiert und ging uns lieber aus dem Weg. Als wir aus dem Waschsalon zurückkehrten, was das Tier wie ausgewechselt. Er begrüßte uns freudig, bettelte um Futter und schlief abends tief entspannt als wäre nichts Besonderes gewesen bei seinem geliebten Herrn Dosenöffner auf dem Schoß.
Ich muss ihn nicht verstehen. Ich muss ihn ertragen. Das ist eine Frage der Zeit. Und bisweilen ist mir danach, das Ende dieser Zeit selbst zu bestimmen …