Geschrei aus dem Dachgeschoss weckt mich, nicht zum ersten Mal, seit die da oben wohnen. Eingezogen sind sie etwa zwei oder drei Wochen nach uns. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißen; zwar haben sie seit ein paar Tagen endlich ein lesbares Klingelschild, jedoch hat sich durch ihr Verhalten die Bezeichnung “Proleten aus dem Dachgeschoss” schon so sehr bei mir verinnerlicht, dass ich den Namen gar nicht mehr warhnehme.
Bereits während ihres drei Wochen andauernden Umzugs - immer wieder wurde Kram und Zeug in schlecht gepackten Kartons unters Dach geschleppt - war deutlich zu erkennen, um wes Geistes Kind es sich handelt. Weniger bei der Frau, die eher ruhig und devot durchs Treppenhaus schleicht, auch nicht bei den Kindern, die eigentlich ganz niedlich aussehen (lediglich dem größeren der beiden könnte ich jedesmal den Halsumdrehen, wenn er auf dem Hof steht und ruft: “Guck mal, Papa, da wohnen ganz viele Spinnen!” - Wer will das schon wissen!), aber der Kerl, mit dem sie zusammen leben. “Zusammen” trifft es wohl nicht so ganz, es wirkt mehr wie ein Gegeneinander. Als er den Küchenschrank aufbauen wollte und zu diesem Zweck gegen 23:20 Uhr anfing laut rumzuschreien, zu fluchen und irgendwelche Sachen durch die Gegend zu schmeißen, rief ich ihm durch das geöffnete Fenster hoch, er möge doch bitte seinen Lärm auf morgen verschieben oder zumindest die Fenster schließen.
Neulich nachts um halb eins wurde ich ihm persönlich vorstellig, nachdem er laut stampfend die Holzstufen des Treppenhauses nach oben erklommen hatte. Dort angekommen wurde wieder Zeug durch die Gegend gepfeffert und laut geschrien, bis sich bei mir eine meiner bereits erwähnten “Jetzt reicht’s!"-Situationen einstellte und ich mich wieder anzog um anschließend wutschnaubend nach oben zu gehen. Mein Mitbewohner trabte vorsichtshalber hinterher - wohlwissend, dass ich in solchen Situationen gelegentlich jegliche gute Erziehung vergesse, und weil der dem Typen dort oben so ziemlich alles zutraut.
Als ich oben ankam, traf mich erstmal der Schlag: Dort sieht es aus wie auf einer Sperrmülldeponie. Ich kann gar nicht beschreiben, was dort neben zersägten Holzplatten und Müllsäcken, Türen und Schrankteilen noch alles im Treppenhaus rumsteht. Ein schmaler Trampelpfad führt zur Wohnungstür, die an diesem Abend weit offen stand. Ich klingelte. Nachdem keine Reaktion erfolgte und ich meinen Schock über den Anblick des Chaos überwunden hatte, klopfte ich laut gegen den Türrahmen. Ein erbärmlicher Wicht kam aus irgendeinem Zimmer zur Wohnungstür gewankt, einen Kopf größer als ich und scheißbesoffen. Fast hätte ich laut gelacht, als mir meine Wut wieder einfiel. Ob er sich vielleicht vorstellen könnte, dass es Leute gibt, die nachts schlafen wollen und dafür ein Minimum an Ruhe für sich in Anspruch nehmen, habe ich ihn gefragt. Ich habe ihm nahegelegt, sich an gewisse Regeln zu halten, die für ein friedliches Zusammenleben von Nöten sind, da ich ansonsten auch noch ganz anders sein kann und bestimmt nicht noch einmal freundlichen klingeln komme. Und wenn er Alkohol und/oder Drogen aus dem Kopf lassen würde, dann klappte das auch besser. Abschließend wünschte ich ihm eine gute Nacht und ging wieder. Es hatte eh keinen Sinn, vermutlich würde er sich nicht einmal daran erinnern, dass es mich überhaupt gibt.
So war es auch tatsächlich, jedenfalls behauptete er dies dem Hausverwalter gegenüber. Er wüsste von nichts und außerdem könne das gar nicht sein, er wäre nie laut. Seitdem grüßt er mich nicht mehr.
Vergangene Woche erzählten mir meine Tochter und mein Mitbewohner unisono, dass ein Mann zur Dachgeschosswohnung ging, ein kurzes aber lautes Wortgefecht folgte, ein Schlag zu hören war und der Mann wieder ging. Mein Mitbewohner war gerade am Briefkasten und sah den Mann mit zugeschwollenem Auge herunterkommen. Diese Erzählung und ein Rest an Vernunft hielten mich heute Morgen davon ab nach oben zu gehen.
Als das Geschrei mich weckte, war es noch stockfinster, weswegen ich mich aufrichtete um auf die Uhr zu sehen: kurz vor fünf. Oben ging es um irgendwelche Fragen der Ordnung, irgendein Porzellanteil flog durch die Luft und zerschellte. Jemand wurde angebrüllt wie ein Hund, er solle gefälligst sofort hierhin kommen. Raufgehen kam nicht in Frage, mein Mitbewohner ist nicht da, und wenn dieser gewaltbereite Idiot mich da oben zusammenschlägt, ist meine Tochter ganz alleine. Eigentlich sollte man die Polizei rufen, aber meist ist es doch so, dass längst wieder Ruhe herrscht, wenn diese endlich da ist. Außerdem quält mich immer wieder die Frage, ob das nun eine Bagatelle ist, die die Polizei von ihrer eigentlich Arbeit abhält, oder ob es gerechtfertigt ist, sie dafür zu bemühen.
So gebe ich mich meinen Gedanken hin, auch noch lange, nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, wie es ausgehen könnte, wenn ich doch hinauf gehen würde. Welches meiner Küchenmesser wohl das geeigneste sei, um meine Argumente zu verstärken oder mich selbst zu schützen. Gegen sechs Uhr meldet meine Blase ein dringlicheres Problem und unterbricht damit meine Gewaltphantasien. An Schlaf ist schon lange nicht mehr zu denken, der Kater freut sich - so früh bekommt er sonntags selten Frühstück. In meinem Kopf schmerzen die Hammerschläge, meine letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten einer Frau, die mir vor drei Jahren das Leben noch schwerer zu machen versuchte, und von der ich mich immer wieder Frage, wie sie überhaupt noch in den Spiegel schauen kann. Aber das ist wieder ein ganz anderes Thema. Es gibt so viele Verrückte in dieser Welt, die von mir behauptet, ich sei nicht normal. Mir ist schlecht …