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irre

 ·  ☕ 4 Minuten zum Lesen  ·  ✍️ dark*

Gerade wurde ich an eine Geschichte erinnert, die sich 1998 zutrug:

Mein (damals noch nicht Ehe-)Mann und ich bezogen gemeinsam eine Wohnung in einem Haus, in dem sich im Erdgeschoss eine Bäckerei nebst Backstube befand. Bereits während des Einzugs und in den Tagen danach begegnete mir im Treppenhaus des öfteren ein junger Mann, der mir bekannt vorkam. Eines Tages sprach er uns dann an. “Hallo, kennt ihr mich nicht mehr?” Wir sahen uns an, überlegten, kamen aber beide zu keinem Ergebnis. “Wo warst du denn letztes Jahr im Sommer?”, fragte er mich. Ach du Scheiße! Letztes Jahr Sommer … oh oh … da war ich im Irrenhaus (anders kann man den Schuppen wirklich nicht bezeichnen, aber dazu ein andermal vielleicht) und unser Nachbar ebenfalls. Daher kam er mir so bekannt vor. Diese Stadt ist viel zu klein. Verdammt! Naja, er setzte dann jedesmal ein verschwörerisches Grinsen auf, wenn er mir im Treppenhaus begegnet. Eigenartig.

Etwa drei Monate nachdem wir eingezogen waren, wurde ich morgens von lauter Musik, begleitet von wütenden Schreien einer Männerstimme geweckt. Was er schrie konnte man nicht richtig verstehen, da die Musik zu laut war. Gleichzeitig hörte ich irgendetwas poltern, Türen knallen und Glasscheiben zerspringen. Es hörte sich an, als würde jemand seine Wohnung in Einzelteile zerlegen. Ich stand auf, versuchte die Geräusche richtig einzuordnen und herauszufinden, woher sie kamen. Unser Schlafzimmerfenster zeigte zu einem kleinen Innenhof über der Backstube, gegenüber sah man die Fenster anderer Mieter, davor ein Durchgang, der zur Wohnungstuer führte. Eine Etage höher sah ich meinen Nachbarn irgendwelche Sachen aus seiner Wohnung, den Gang entlang zum Treppenhaus tragen, die laute Musik dröhnte aus seiner Wohnung, lauthals vor sich hin fluchend und – NACKT!? Schlagartig war ich wach – und fassungslos, meinen eigenen Augen nicht trauend, was ich sah.

Mein erster Gedanke war, nach oben zu gehen und ihn zu fragen, ob denn sonst noch alles ok wäre. Ich zog mich an und ging entschlossen ins Treppenhaus, hielt kurz inne und ging nach unten in die Bäckerei. Ich bin kein Held und zwischen Wollen und Tun liegen Welten. In der Bäckerei fragte ich, ob der Sohn der Inhaberin da sei (er ist fast zwei Meter groß und sehr kräftig). Auf die Frage, was ich von ihm wolle erklärte ich Frau B. was sich in der Wohnung oben abspielte und sie erzählte mir, dass der junge Mann eine Betreuerin hätte und diese verständigt werden müsse. Ob ich denn so freundlich wäre, die Hausverwalterin anzurufen um sie darum zu bitten. Hm, na gut. Ich hätte zwar in Anbetracht der Situation die Polizei einer Betreuerin vorgezogen, aber wenn sie meint… Ich rief bei der Hausverwaltung an, erklärte der Dame am Telefon die Situation und sie wollte die Betreuerin informieren. Zehn Minuten später rief sie zurück und sagte mir, dass sie bei der Dame auf den Anrufbeantworter gesprochen hätte und man abwarten müsse.

Fassungslosigkeit! Ein Mann nimmt seine Wohnung auseinander, schreit das Haus zusammen, dreht die Musik auf, das alles auch noch nackt und die Dame gedenkt zu warten, bis eine Frau XYZ mal wieder ihren Anrufbeantworter abhört. Kaum zu glauben! Ich ging nochmals in die Bäckerei und informierte die Inhaberin. Die 74 Jahre alte Frau schüttelte verständnislos den Kopf, überlegte einen Moment und ging entschlossen an mir vorbei. Ich traute meinen Augen kaum. Die Frau ist 74 Jahre alt, 1.60 m groß und schmächtig und geht da rauf in die Wohnung?! Und ich? Blieb im Treppenhaus stehen wie Hain Blöd und wartete ab, gelähmt vor Angst, weil schreiende Männer mir nunmal Angst machen, insbesondere wenn sie auch noch nackt sind. Horror! Als Frau B. in der Wohnung oben angekommen war (die Musik war zwischenzeitlich aus) war es ruhig. Und es blieb ruhig. ZU ruhig.

Später erfuhr ich, dass der Typ mit einem Messer hinter der Tür stand, immer noch nackt, die Frau ins Schlafzimmer zog, aufs Bett drückte und vergewaltigen wollte. Wie krank muss man sein, um eine 74 Jahre alte Frau zu vergewaltigen? Ich war froh, dass ich nicht raufgegangen war, dass ich meiner Feigheit tatsächlich mal etwas Positives abgewinnen konnte.

Er wurde abgeholt, das Ordnungsamt kam, die Polizei kam und auch die Betreuerin ließ sich endlich mal blicken. Man muss Verständnis haben, der Mann ist schließlich krank. Aha. Das Verständnis von Frau B. hielt sich in Grenzen. Er kam per Zwangseinweisung in die geschlossene Abteilung der psychiatrischen Klinik, in der ich ihn kennenlernte. Zwei Tage später klingelte die Polizei bei uns und fragte, ob ich wüsste, wo er sei. “Im Klinikum, denk ich.” Nein, erfuhr ich, er sei von dort abgehauen, von der Geschlossenen. Ich kenne die Station, das ist nicht leicht. Naja, bei mir war er jedenfalls nicht und mehr Auskunft konnte ich auch nicht geben. Gesehen habe ich ihn nie wieder.

Diese Stadt hat knapp 240.000 Einwohner und zwei psychiatrische Kliniken. Zu wenig wie ich finde. Es ist ein Abenteuer auf die Straße zu gehen, solange so viele Irre wie beispielsweise mein ehemaliger Nachbar frei rumlaufen..

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dark*
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dark*
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