Fast eine Million Menschen scheiden jedes Jahr freiwillig aus dem Leben - alle 40 Sekunden einer. Zu den Risikofaktoren gehören Depressionen, Alkohol und Gewalt. In Deutschland steigt die Zahl der Selbsttötungen wieder.
So stand es gestern in der FAZ*. Und weiter war dort zu lesen:
[ …], bei den Zehn- bis Vierundzwanzigjährigen sogar die zweithäufigste Todesursache.
Und weil es die zweithäufigste ist, muss man dringend etwas dagegen tun! Mit solchen Superlativen wirft man in diesem Zusammenhang gerne um sich. Fühlt man sich besser, wenn das Kind/der Freund/die Klassenkameradin/der Arbeitskollege/die Mutter an Krebs oder durch einen Verkehrsunfall gestorben ist? Ich glaube nicht. Und selbst wenn, wird man auch dann etwas dagegen tun wollen, nicht wahr? Dabei wird immer irgendetwas die (zweit-/dritt-/etc.)häufigste Todesursache sein, so lange wir nicht unsterblich sind. Einen Menschen zu verlieren ist beschissen. Darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Und daran braucht man sich auch nicht mit Top Ten aufzugeilen.
Zudem wird durch diese Aussage, mit der man schon seit Jahren gerne hausieren geht, wieder und wieder suggeriert, dass Suizid unter jungen Menschen besonders häufig vorkommt. Das stimmt allerdings nicht, die tatsächliche Anzahl der Selbsttötungen steigt im Rentenalter rapide an, was im Artikel aber nur nebenbei bemerkt wird.
Quelle: Wikimedia.org
Aber wer interessiert sich schon für alte Menschen …
Vor zehn Jahren noch hat man für den Anstieg der Suizidrate Internetforen, Chats und auch ganz gerne mich (sowie ein paar meiner damaligen “Kollaborateure”) verantwortlich gemacht, heute sind wir aus der Nummer raus. Seit DER SPIEGEL, SPIEGEL TV, stern TV und wie sie nicht alle heißen und blöde Schreibweisen haben nicht mehr regelmäßig über die Foren und Chats berichten, ist es dort wieder ruhiger geworden und unschuldige Kinder stolpern nicht versehentlich über böse Webseiten. (Mir wird schlecht …)
Ein neuer Pressekodex hatte sich seinerzeit etabliert: Über Suizide wird wegen des Werther-Effekts kaum noch berichtet. Ganz besonders gilt das für Schienensuizide, da diese angeblich recht häufig der Nachahmung unterliegen. Die Auswüchse dieser Vorgehensweise sind teilweise etwas grotesk, da auch hier mit deutscher Gründlichkeit übers Ziel hinaus geschossen wird. So war vor einigen Monaten in Krefeld ein Bahnübergang für Stunden sowohl für den Schienen- als auch für den Straßenverkehr gesperrt. Ein riesiges Aufgebot an Einsatzkräften war vor Ort: Polizei, Rettungswagen, Notarzt, Feuerwehr. Es kursierten u.a. Gerüchte, dass ein Kind vom Zug erfasst worden sei, da ein herrenloses Kinderrad am Bahnübergang lag. (Das Kind war vor Schreck nach Hause gelaufen, hat aber das Fahrrad nicht mitgenommen, wie sich später herausstellte.) In den Zeitungen (Online- und Print-Ausgaben) fand sich nichts darüber, nicht einmal eine kleine Notiz, dass es dieses Vorkommnis überhaupt gegeben hat. Als ob Totschweigen jemals irgendwelche Probleme gelöst hätte …
Hauptursache für Suizid ist übrigens immer noch das Leben.
Suicide is not chosen; it happens when pain exceeds resources for coping with pain.
(Quelle - unbedingt lesenswert!)
*FAZ-Link im Freitod-Weblog aufgeschnappt