Gestern fing es bereits an, ein leichtes Ziehen ungefähr dort, wo der Orthopäde Ende letzten Jahres die Spritzen reingejagt hatte. Aber nur ganz leicht, so dass es sich noch ignorieren ließ. Heute Morgen beim Kaffee kochen konnte man es immerhin schon als Schmerz bezeichnen, noch erträglich, aber deutlich spürbar.
Und dann kam das erste, eindeutige und ernstzunehmende Zeichen, dass mit meinem Organismus etwas nicht stimmt: Der Kaffee schmeckte nicht! Um wach zu werden und somit die Fähigkeit nachzudenken zu erhalten, kippte ich mir die widerliche Brühe trotzdem runter und beschloss als Erste-Hilfe-Maßnahme die sofortige Rückkehr ins Bett einzuleiten.
Dort angekommen stellte ich jedoch fest, dass Herumliegen sowieso nichts für mich ist und außerdem die Sache nur verschlimmerte. Also schleppte ich mich noch einmal in die Küche, um mit einer weiteren Tasse Kaffee ein zweites Mal zu versuchen den Tag zu beginnen. Während der gesamten Prozedur lag mein darkinchen friedlich schlummernd neben mir in meinem Bett, in das sie sich gestern Abend aufgrund des Gewitters verkrochen hatte.
Der zweite Versuch nahm sich zunächst ganz gut aus, erwies sich jedoch recht schnell als gescheitert. Um zwanzig Minuten vor Zehn fuhr ich den Computer herunter. Eigentlich wollte ich erneut in die Küche, um mir dort ein Schmerzmittel zu holen. Weiter als bis zum neben dem Schreibtisch stehenden Bett kam ich jedoch nicht. Dort konnte ich mich nur noch fallen lassen, was dann auch das darkinchen aufweckte.
Naturgemäß befindet sie sich immer in heller Aufregung, wenn Mutter mal nicht wie gewohnt funktioniert. Ihre Idee, sofort einen Krankenwagen zu rufen, lehnte ich strikt ab. Stattdessen bat ich sie, mir eine Zigarette und den Aschenbecher zu reichen und dann meinen Mitbewohner anzurufen, damit dieser nach Hause käme. Auch in der Not muss man Prioritäten setzen, und irgendwann würde sich mein Rücken schon wieder beruhigen. Vielleicht war es auch die Vorahnung, dass dies für die nächsten drei Stunden meine letzte Chance auf einen Glimmstengel sein würde.
Meine Blase und die Unerträglichkeit des Zustandes der Hilflosigkeit trieben mich erneut aus dem Bett. Die Versuche aufzustehen waren allerdings erbärmlich. Ich schaffte es nicht mehr meinen Körper in eine aufrechte Position zu bringen. Wer noch sagen kann: “Ich kann nicht mehr!”, kann immer noch; wer wirklich nicht mehr kann, bricht wortlos zusammen. Diesen Status quo hatte ich erreicht.
Zwischen Fußende und und Türe ging ich heulend in die Hocke um mich langsam zu Boden gleiten zu lassen. Hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken lag ich da, die Schmerzen unerträglich, am liebsten hätte ich laut geschrien, verkniff es mich jedoch, um mein Kind nicht noch mehr zu beunruhigen. Außerdem nahm der Schmerz mir die Luft zum Atmen, weswegen mehr als ein verzweifeltes Stöhnen eh nicht mehr möglich war.
Energisch meinte Schatzi nun endlich einen Krankenwagen anzurufen. Die Sinnlosigkeit des Widerspruchs leuchtete sogar mir ein. “Meine Mutter liegt auf dem Boden, kann sich nicht bewegen und bekommt keine Luft mehr!”, erzählte sie demjenigen, der in der Telephonzentrale der Feuerwehr den Anruf entgegen nahm. Sehr dramatisch. Offensichtlich empfindet ein Kind den Zustand der Mutter um einiges schlimmer. Sie gab Name, Anschrift und Telephonnummer durch und teilte dem Gesprächspartner mit, dass sie sich nun an die Straße stellen und warten werde. Sprach’s und verschwand.
Immer noch wie ein Käfer auf dem Boden liegend, griff ich nach meinem Handy, welches meine Tochter in meiner Reichweite liegen gelassen hatte, um meinen Mitbewohner erneut anzurufen, damit er Bescheid weiß. Plötzlich klingelte das Festnetz-Telephon. Wenn das nun die Rettungsleitstelle wegen irgendeiner Nachfrage ist? Aber was sollte ich tun, das Telephon zu erreichen war trotz der geringen Distanz von etwa zwei Metern ein Ding der Unmöglichkeit. Das Gerät hätte genauso gut auf dem Mars stehen können.
Auch wenn es mir vorkam wie eine Ewigkeit, dauerte es tatsächlich nur fünf Minuten bis der Krankenwagen da war. Das übliche Procedere, was denn passiert sei, Gefühl in den Beinen usw. Irgendjemand nervte wegen meiner Versichertenkarte. Als der Notarzt da war, wurde mir ein Zugang gelegt. Ich bekam Tramal und Paspertin sowie die obligatorische Ringer-Lösung. Das Tramal wirkte relativ schnell, mir wurde schwindelig. Nur den Schmerz hatte es noch nicht restlos abgestellt. Man überlegte, in welches Krankenhaus mich bringen sollte, dann wurde die Trage herbeigeschafft. Mich darauf zu bekommen, war nicht ganz einfach, schließlich lag ich in der Tür. Man drückte mir die Infusionsflasche in die Hand, dreht mich auf die Seite und schob mir die Trage unter. Dann drehte man mich zurück, wobei die Trage meine Tür zerkratzte.
Als ich aus der Wohnung getragen wurde, winkte ich ein letztes Mal meiner tränenüberströmten Tochter zu und versuchte zu lächeln. Von der Straße aus konnte ich sehen, dass unser Etagennachbar am Fenster stand. Die Frau aus dem Erdgeschoß kam gerade den Gehweg entlang, als ich bereits im Krankenwagen lag, und sah mich fragend an. Diese beiden Blicke komplettierten das schreckliche Gefühl, das ich bereits in der Wohnung hatte, diese Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein. Ich fühlte mich erbärmlich.
Zudem kam, dass diese blöde Trage mir zusätzliche Schmerzen verursachte. Festgeschnürt wie ein Paket war mein Aktionsradius extrem eingeschränkt, was ein leichtes klaustrophobisches Gefühl hervorrief. Obendrein ist die Trage aus Metall, also alles andere als bequem, in der Mitte offen, so dass sie punktegenau auf die ohnehin schmerzenden Stellen drückte. Dankenswerterweise fragte mich in diesem Moment einer meiner sechs Mann starken Rettungstruppe, ob denn nun das Tramal wirken und es halbwegs auszuhalten sei. Ich gab zu bedenken, dass die Trage es noch schlimmer machen würde, und man entfernte das unbequeme Ding unter mir. Dann ging es und man konnte endlich losfahren.
Auf Blaulicht und Martinshorn wurde verzichtet, da der Notarzt den Fahrer angewiesen hatte, langsam zu fahren. Er hatte Bedenken hinsichtlich eines Bandscheibenvorfalls. Die Strecke zum Krankenhaus kam mir unglaublich lang vor, wie überhaupt alles und jede Phase der ganzen Aktion.
Der Parkplatz der Rettungswagen in der Klinik ist mit Doppel-T-Pflaster ausgestattet, was nicht wirklich angenehm für Rückenleidende ist (für Schwerverletzte wohl auch oder erst recht nicht). Nachdem auch dies noch überwunden war, war ich endlich da und schnell würde jemand kommen, der entweder meine Grabinschrift mit mir bespricht oder mir sagt: “Mädel, is‘ nich so schlimm.” Allerdings war man sich nicht ganz einig, wo ich denjenigen empfangen sollte, und so wurde ich auf den Gängen hin- und hergeschoben, bis ein freies Bett gefunden war, in welches ich umziehen sollte.
Meine neue Lagerstatt war wesentlich komfortabler als der Zimmerboden, die Trage oder die Liege; die Uhr zeigte fünf Minuten vor Elf. Und da ich mutterseelenallein auf dem Gang rumlag, hatte ich ausreichend Zeit für Gedanken über das Sein im Hier und Jetzt. Eine Krankenschwester kam um mich zu begrüßen und mir zum dritten Mal eine Zusammenfassung der Ereignisse des Vormittags zu entlocken. Zum dritten Mal ließ ich nicht unerwähnt, dass ich mich eigentlich auf dem Weg zur Toilette befunden hatte und zum dritten Mal wurde dieses Detail meiner Erzählung ignoriert. Ich war wieder allein mit meinen Gedanken und meiner sich mehr und mehr füllenden Blase.
Mein Alleinsein wurde durch ein Insekt unbekannter Art beendet, dass über mein Bett hinweg flatterte und an der Wand, etwa einen Meter oberhalb meiner Knie sitzen blieb. Was tun? Spontan wollte ich nach der Schwester rufen, damit sie das Vieh entfernt, jedoch kam mir der Gedanke ziemlich albern vor. Gleichzeitig brach mir jedoch der Schweiß aus und irgendetwas musste geschehen. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich das Problem nun lösen konnte, kam die Schwester, um mich in ein Behandlungszimmer zu schieben. Die Uhr zeigte zehn Minuten vor Zwölf.
Auf dem Weg ins Behandlungszimmer sprach ich die Schwester nun deutlich auf mein Blasenproblem, das nur kurzfristig durch das Insekt überdeckt wurde, an. Sie bot mir eine Bettpfanne an, die ich jedoch dankend ablehnte. Ich wollte auf Toilette. Ob ich denn aufstehen könne, wollte sie wissen. Das konnte ich ihr natürlich nicht beantworten, ich hatte es schließlich nicht ausprobiert. Mit dem Hinweis, dass sie mich nicht tragen könne, verschwand sie aus dem Behandlungszimmer.
Der Raum war ziemlich eng. Außerdem hatte ich es satt die Decke anzustarren. Also startete ich erste Bewegungsversuche. Zunächst drehte ich mich auf die Seite, was meinem Rücken angenehme Erleichterung verschaffte. Während des gesamten Zeitraums, vom Zimmerboden bis jetzt, hatte ich immer wieder den Drang, den Rücken bewegen zu müssen um dann in der anschließenden Ruhephase mehr oder weniger Schmerzfreiheit genießen zu können. Jeweils in Abständen von einer Minute. Krampfartige Schmerzen suchten immer wieder meine Brustwirbelsäule heim, sobald diese in Ruheposition war. Höllenschmerzen durchzogen meinen gesamten Brustkorb wenn ich mich kurz aufbäumte und dann wieder entspannte. Dieser Kreislauf schien nicht enden zu wollen, lediglich die Zeitabstände vergrößerten sich im Laufe der letzten Stunde ein wenig.
Wo blieben eigentlich mein Kind und mein Mitbewohner? Ich fühlte mich ein wenig vergessen. Darüber hinaus beschäftigte mich die Frage, ob sie wohl daran denken würden, dass ich barfuß abtransportiert wurde. Mir war auch nicht klar, was ich tun sollte, wenn nun ein Arzt meinte, ich könne nach Hause gehen (wovon ich ausging). Die einzige Telephonnummer, die ich auswendig kann, ist die meines Handys. Da dieses jedoch just in dem Moment klingelte, als der Notarzt mir die Infusion legte, habe ich es ausgeschaltet. Zigaretten hatte ich natürlich auch keine dabei. Und überhaupt, ich hatte ganz andere Sorgen, als ich die Wohnung verließ.
Meine Blase gab keine Ruhe, klingeln konnte ich nicht, da die Klingel für mich unerreichbar am anderen Ende des Raumes war, so versuchte ich mich hinzusetzen. Das missfiel meinem Rücken deutlich, mein Kreislauf war ebenfalls nicht einverstanden , also legte ich mich ergeben wieder hin. Ich hielt es für besser, mich noch ein paar Mal nach rechts oder links zu drehen, bevor ich meinem Rücken aufrechte Positionen zumuten wollte. Dabei war mir die Infusionsflasche mit der Ringerlösung ständig im Weg. Also blieb ich lieber still liegen und beobachtete, wie mein Blut langsam in den Schlauch Richtung Flasche floss, da die Infusion noch im Rettungswagen bereits abgestellt wurde.
Um kurz vor halb Eins kamen endlich meine Lieben. Offensichtlich dachten sie mich ein paar Tage vom Hals zu haben, da sie eine Tasche mit den für einen Krankenhausaufenthalt notwendigen Utensilien dabei hatten. Nur leider keine Schuhe. Dafür fand aber endlich mein Blasenproblem Gehör. Mein Mitbewohner bot mir ebenfalls an eine Bettpfanne zu besorgen. Mittlerweile war ich fast so weit darauf einzugehen. Aber diesmal meinte die Schwester, wir könnten es ja mal zusammen versuchen mit dem Aufstehen. Na bitte, geht doch.
Ein wenig high von den Medikamenten schwebte ich barfuß zur Toilette und wieder zurück. Eigentlich wollte ich nun zurück nach Hause. Aber ich musste noch auf den Arzt warten, der um zwanzig Minuten vor Eins endlich eintraf. Meine Lieben waren zwischenzeitlich zum nebenan gelegenen McDonald’s gegangen.
Ich erzählte noch einmal die Ereignisse des Tages, wurde abgedrückt, -geklopft und -gehorcht, der Mann spielte Klavier auf meinen Wirbeln und erklärte mir: “Ich glaube, ich weiß, was sie haben.” Donnerwetter, mit solch einer Präzision habe ich nicht gerechnet! Er erklärte mir lange und ausführlich etwas von Gelenken, zu locker, rausspringen, Nerven reizen, Schmerzen usw. Wie schon der Orthopäde in Berlin, war auch dieser Arzt offenbar nicht in der Lage nachzuvollziehen, dass die geistige Aufnahmefähigkeit bei Patienten unter Schmerzen stark vermindert ist. Jedenfalls blicke ich immer noch nicht genau, was mir denn nun fehlt. Dafür habe ich noch ein paar Tramal und Sirdalud bekommen.
Letztere entspannt die Muskulatur und macht müde. Daher werde ich mir diese nun gönnen und ins Bett gehen. Aber erst wasche ich meine Füße, schließlich musste ich barfuß bis zum Auto und vom Auto nach Hause laufen.