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Zuhören ...?

 ·  ☕ 4 Minuten zum Lesen  ·  ✍️ dark*

Gerade fällt mir eine Geschichte ein, die schon ein paar Jahre zurückliegt. Meine Tochter ging damals noch in den Kindergarten. Irgendwann Ende November wurde dort ein Bastelabend organisiert, an dem die Eltern die Möglichkeit hatten, einen Adventskranz zu basteln. Da ich für solche Dinge nichts übrig habe, hatte mich das ganze nicht weiter interessiert; bis meine Tochter meinte ich soll da unbedingt hingehen. Also hab ich dem Kind den Gefallen getan und mich zu dem illustren Kreis von Übermüttern begeben. Wie bei solchen Anlässen üblich, gab es jede Menge Small Talk, der sich bei mir auf ein kurzes “Hallo” beschränkte, da es einer dieser Abende war, an denen mir mehr nach Sterben als nach Basteln zumute war. So versank ich dann in tiefes Brüten wie hart und ungerecht das Leben ist, gleichzeitig mit widerspenstigen Tannenzweigen kämpfend.

Während ich also schweigend vor mich hinbastelte und überlegte, wie lange ich dieses beschissene Leben noch ertragen würde, wurde ich urplötzlich von rechts mit einem “Hallo, wie geht’s?” aus den unendlichen weiten meiner Gedanken gerissen. In Sekundenbruchteilen wurde der Paranoid in mir aus dem Tiefschlaf geweckt und fragte sich, ob es dieser Person tatsächlich möglich sein sollte meine Gedanken zu lesen, oder warum sie ausgerechnet diese Frage stellte. Nach eingehender Betrachtung der zotteligen, ungewaschenen Haare, die in den für billige Dauerwellen typischen Locken vom Kopf hingen, und der dümmlich blickenden, leicht hervorstehenden Augen, die hinter der dicken Hornbrille etwas seltsam wirkten, kam er zu dem Entschluss, dass diese Person unmöglich Gedanken lesen kann. Als nächstes prüfte der Paranoid, ob ich möglicherweise Selbstgespräche geführt hatte. aber ein Blick in die Runde ließ ihn feststellen, dass mich niemand beachtete, sodass auch diese Möglichkeit ausschied. Einigermassen beruhigt kam er zu dem Entschluss, dass die Frage wohl als allgemeine Höflichkeitsfloskel zum Beginn eines Gesprächs gemeint war. Ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen, dass vermutlich ebenso schief war wie mein Adventskranz und erwiderte knapp “Gut”, um gleich darauf den Kopf wieder zu senken und extrem beschäftigt zu tun. Damit war die Unterhaltung auch schon wieder beendet – für mich jedenfalls und vorerst zumindest.

Nach knapp einer Stunde hatte ich dann endlich die Zweige gezwungen eine halbwegs runde Form anzunehmen und das ganze mit blauen Kerzen, blauen Schleifen und goldenem Glitter verziert. Nachdem ich mir brav die geheuchelten Lobeshymnen über mein Kitschwerk angehört und mit einem so gut es eben ging freundlichen Lächeln quittiert hatte, machte ich mich endlich auf den Weg nach Hause, der aufgrund der örtlichen Gegebenheiten des Kindergartens nur über den Lift zu erreichen war.

Und da stand sie plötzlich wieder, fettige Locken mit Froschaugen, und öffnete gerade ihren Mund, als ich sie wahrnahm. Oh nein! Alles, nur das nicht! Zu spät, sie fing an zu reden und hörte die folgenden vierzig Minuten nicht wieder auf, wie sich nachher herausstellte. Draußen vor dem Gebäude angekommen, standen wir uns gegenüber – sie unablässig redend, ich frierend mit meinem Adventskranz in den Händen, der jeden Augenblick auseinander zu fallen drohte. Sie erzählte mir ihre gesamte Lebensgeschichte, angefangen bei ihren familiären Verhältnissen in der Kindheit, wie sie ihren Mann kennen lernte und dann heiratete. Sie erzählte mir was für ein schlechter Ehemann ihr Gatte doch gewesen sei und wie sie sich von ihm getrennt hatte. Außerdem musste ich mir anhören, wie ihre Kinder aufwuchsen, dass sie zwischenzeitlich von der Sozialhilfe lebte, da ihr Mann keinen Unterhalt zahlte, dass sie so einsam und allein wäre, blablabla…

Ich überlegte krampfhaft wie ich sie zum Schweigen bringen konnte. Ich könnte mich töten, dachte ich. Ich könnte das Taschenmesser aus meiner Jacke kramen, aufklappen und mir die Pulsadern aufschneiden, hier, mitten auf der Straße, direkt vor dem Kindergarten gegenüber vom Weihnachtsmarkt, der gerade begonnen hatte. Unmittelbar vor ihren Froschaugen das Blut aus der geöffneten Arterie meines linken Handgelenks fließen lassen. Das müsste klappen. Sie wäre dann auf jeden Fall vom Sprechen ab. Davon war ich überzeugt. Gleichzeitig hätte ich der Menschheit einen Dienst erwiesen, da sich nie wieder jemand die langweilige Geschichte dieser Frau würde anhören müssen, weil sie es sicherlich kein zweites Mal riskieren will, einen Menschen mit ihrer ach so entsetzlichen Leidensgeschichte in den Tod zu treiben. Diese Vorstellung ließ sogar ein Lächeln auf meinem Gesicht erscheinen.

Leider im falschen Moment. Anscheinend erzählte sie gerade, wie ihr Gatte seine Aggressionen an ihr auszulassen pflegte, während vor meinem geistigen Auge mein Blut über den Gehweg floss und ich zu lächeln begann. Sie rüttelte an meinem Ärmel und fragte, ob es mir gut ginge, da ich plötzlich so blass und abwesend wirkte und sie befürchtete, dass ich in Ohnmacht fallen könnte. Ich war wieder voll da, warf kurz einen prüfenden Blick auf mein Handgelenk und stellte enttäuscht fest, dass ich wohl nur geträumt hatte – leider. Ich erwiderte, dass ich mich tatsächlich ein wenig unwohl fühlte, da ich noch nicht gegessen hatte, und deshalb jetzt leider die nette Unterhaltung unterbrechen musste. Sie bot mir an, ich könnte sie ja einmal zwecks gemeinsamen Kaffeetrinkens und Gedankenaustausches besuchen. Ich quittierte ihr Angebot mit einem weiteren gequälten Lächeln und entschwand Richtung Heimat. Hilfe!

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dark*
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